Full text: Kleine Lebensbilder berühmter Männer für den geschichtlichen Unterricht

— 51 — 
deshalb aus schleunige Beseitigung eines so gefährlichen Mannes an. So¬ 
krates, bereits ein Greis von siebenzig Jahren, fand es seiner unwürdig 
sich gegen solche Anklagen weitläufig zu verteidigen. Er wies auf sein 
öffentliches Leben hin und versicherte, ihm habe seit dreißig Jahren nichts 
mehr am Herzen gelegen, als seine Mitbürger tugendhafter und glücklicher 
Zu machen, und hierzu habe er einen göttlichen Beruf in sich gefühlt. Eine 
solche freimütige Verteidigung erbitterte die Richter. Denn sie hatten er- 
wartet, er würde wie andere Angeklagte durch eine lange Rede unter Bitten 
und Thränen um Mitleid und Begnadigung flehen. Sie schickten ihn des- 
halb vorläufig ins Gefängnis. Hier brachte ihm einer seiner Freunde, Lysias, 
eine sehr schön ausgearbeitete Verteidigungsrede, die er halten sollte. So- 
krates las sie und fand sie schön. „Aber," sagteer, „brächtest du mir weiche 
und prächtige Socken, ich würde sie nicht tragen, weil ich es für unmänn¬ 
lich halte." Und er gab ihm die Rede zurück. 
Bei der nächsten Gerichtssitzung wurden die Stimmen über ihn ge- 
sammelt. Eine Mehrzahl von dreißig Stimmen verurteilte ihn zum Tode. 
Sokrates hörte sein Todesurteil mit der größten Ruhe, nicht aber seine 
Schüler. Sie drängten sich mit Thränen in den Augen zu den Richtern 
und fleheten und boten eine große Summe Geldes für die Loslassung ihres 
Lehrers. Sie wurden abgewiesen. Sokrates nahm Abschied von den Rich- 
tern, die für ihn gestimmt hatten. Er verzieh allen, die ihn verurteilt 
hatten, und freute sich bald zu den Geistern der edlen Männer der Vor¬ 
zeit zu kommen. Dann wurde er wieder ins Gefängnis geführt und in 
Ketten gelegt. Seine jungen Freunde folgten ihm weinend nach und waren 
von nun an täglich um ihn. 
Der Gefangenwärter hatte ein mitleidigeres Herz als die Richter. 
An ihn wendeten sich die Schüler mit Bitten und Geschenken und brachten 
ihn auf ihre Seite. Er ließ die Thüre des Gefängnisfes offen, Sokrates 
sollte entfliehen; freudig munterten ihn seine Schüler, die alles zur Flucht 
in Bereitschaft hatten, hierzu auf. Er aber wies ihren Vorschlag zurück 
und belehrte sie, daß man stets den Gesetzen der Obrigkeit gehorchen müffe. 
„Ach," schluchzte sei» Freund Apollodoros, „du stirbst doch so unschuldig!" 
— „Und wolltest du denn lieber," versetzteer mit Lächeln, „daß ich schuldig 
stürbe?" Am audern Morgen erschienen sie in aller Frühe. Diesmal war 
auch der Gerichtsdiener da, der ihm die Ketten abnahm und ankündigte, er 
müsse vor Sonnenuntergang den Giftbecher trinken. Auch seine Frau kam 
von ihm Abschied zu nehmen; sie hatte das jüngste Kind auf ihren Armen 
And weinte laut auf. Alle waren erschüttert. Sokrates bat einen seiner 
Freunde seine Frau nach Hause zu führen, damit ihm die letzte Stunde 
nicht erschwert würde. Dann wendete er sich an seine Freunde, tröstete sie, 
sprach mit ihnen über Leben und Tod und über seine Hoffnung, daß die 
Seele des Menschen unsterblich fortdauere. 
4*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.