Full text: Prosa für die zweite und erste Klasse (Teil 3, [Schülerband])

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Blumenschmuck prangte, unweit davon der Kirchturm, aus den Zypressen und 
Pappeln des Kirchhofs herüberschauend, — gewährten ein anmutiges Landschafts¬ 
bild. In Voreppe verließen wir den Eilwagen und gingen noch in kühler Abend¬ 
stunde durch ein Seitental nach dem Alpenstädtchen Saint Laurent du Pont unweit 
der savoyischen Grenze. 
Ich war angenehm überrascht, in diesen französischen Alpen dieselben Berg¬ 
formen, dieselbe Vegetation, denselben Charakter vorzufinden wie an den südlichen 
Abhängen des Sankt Gotthard und am Comer See: langgestreckte Kalkwände, von 
weichem, samtartigem Grün überwachsen, reicher Pflanzen- und Baumwuchs, keine 
langweilig eintönigen Tannenwälder, frisch rauschende, kühn überbrückte Gebirgs- 
ströme, Fernfichten in das überschwemmte Tal der Jssre, genannt 1a valles äs 
Orainsivauäan, als Staffage patrouillierende Douaniers, die die Grenze nach 
Savoyen gegen den reichlich getriebenen Schmuggel behüten — über allem aber 
eme würzig balsamische Alpenluft — das waren die unerwarteten Eindrücke des 
abendlichen Ganges nach Saint Laurent. 
Ein gutes Gebirgswirtshaus nahm uns dort auf und spendete köstliche Forellen, 
savoyische Berghasen und gute Betten. Andern Morgens in dämmernder Frühe 
stand ein Führer bereit, und wir zogen in die Alpenwildnis ein, die nach der Grands 
Chartreuse führt. Dieser Weg, den tobenden Wildbach Liuisrs-rnort entlang, 
gehört zu dem Großartigsten, was ich auf vielfachen Alpenwanderungen gesehen, 
und kann sich an landschaftlicher Schönheit mit der Via mala und den Simplon- 
pfaden messen. 
Furchtbar einsam und wild ist's gleich anfangs bei einem Punkte, Les Four- 
voiriers genannt: ein rauchschwarzer Eisenhammer mit tief in den Mauern liegenden 
vergitterten Fenstern steht finster zur Rechten eines Wildbachs, aus dessen brausenden 
Fällen feuchter Dust zu den hundertjährigen Buchen und Tannen emporsprüht; 
eme aus einem einzigen Bogen bestehende Brücke spannt sich keck darüber, auf 
beiden Seiten steigen gewaltige senkrechte Felsen empor, ein alter Torturm, über 
dessen Portal in Stein gehauen ein Kreuz auf der Erdkugel fußt, sperrt die schmale 
in Fels gehauene Straße. 
8tat crux dum volvitur orbis! (das Kreuz bleibt bestehen, wenn auch die 
Welt umgewälzt wird) steht an diesem Eingang geschrieben, den ehemals ein 
Klosterwächter besetzt hielt..., es ist die „sntrss du desert“ der Weg zur Wild- 
uis. . . Wer hinaufsteigt, um oben in der Kartause als Büßer sein bleibend 
uartier zu nehmen, mag zum letztenmal hier halten und der Welt hinter ihm 
ein jenseits dieses Tores beginnt die Wüste, und irgend ein Tourist oder 
elner er Landschaftsmaler, von deren Anwesenheit hierorts mannigfache von der 
jj e e ^gestrichene und am Fels vertrocknete Farbenreste Zeugnis geben, hat 
arum nnt Bleistift die Dantesche Inschrift des Höllentores: xsr ms si va nella 
ci a olente u.s.w. (durch mich gelangt man in die Stadt der Schmerzen) an die 
Mauer angemerkt. 
Weiter oben fällt dem Wandersmann ein Wasserfall in die Augen, der durch 
aru er gestürzte Felsen überbrückt ist, ähnlich dem Golinger im Salzburgischen ...,
	        
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