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Blumenschmuck prangte, unweit davon der Kirchturm, aus den Zypressen und
Pappeln des Kirchhofs herüberschauend, — gewährten ein anmutiges Landschafts¬
bild. In Voreppe verließen wir den Eilwagen und gingen noch in kühler Abend¬
stunde durch ein Seitental nach dem Alpenstädtchen Saint Laurent du Pont unweit
der savoyischen Grenze.
Ich war angenehm überrascht, in diesen französischen Alpen dieselben Berg¬
formen, dieselbe Vegetation, denselben Charakter vorzufinden wie an den südlichen
Abhängen des Sankt Gotthard und am Comer See: langgestreckte Kalkwände, von
weichem, samtartigem Grün überwachsen, reicher Pflanzen- und Baumwuchs, keine
langweilig eintönigen Tannenwälder, frisch rauschende, kühn überbrückte Gebirgs-
ströme, Fernfichten in das überschwemmte Tal der Jssre, genannt 1a valles äs
Orainsivauäan, als Staffage patrouillierende Douaniers, die die Grenze nach
Savoyen gegen den reichlich getriebenen Schmuggel behüten — über allem aber
eme würzig balsamische Alpenluft — das waren die unerwarteten Eindrücke des
abendlichen Ganges nach Saint Laurent.
Ein gutes Gebirgswirtshaus nahm uns dort auf und spendete köstliche Forellen,
savoyische Berghasen und gute Betten. Andern Morgens in dämmernder Frühe
stand ein Führer bereit, und wir zogen in die Alpenwildnis ein, die nach der Grands
Chartreuse führt. Dieser Weg, den tobenden Wildbach Liuisrs-rnort entlang,
gehört zu dem Großartigsten, was ich auf vielfachen Alpenwanderungen gesehen,
und kann sich an landschaftlicher Schönheit mit der Via mala und den Simplon-
pfaden messen.
Furchtbar einsam und wild ist's gleich anfangs bei einem Punkte, Les Four-
voiriers genannt: ein rauchschwarzer Eisenhammer mit tief in den Mauern liegenden
vergitterten Fenstern steht finster zur Rechten eines Wildbachs, aus dessen brausenden
Fällen feuchter Dust zu den hundertjährigen Buchen und Tannen emporsprüht;
eme aus einem einzigen Bogen bestehende Brücke spannt sich keck darüber, auf
beiden Seiten steigen gewaltige senkrechte Felsen empor, ein alter Torturm, über
dessen Portal in Stein gehauen ein Kreuz auf der Erdkugel fußt, sperrt die schmale
in Fels gehauene Straße.
8tat crux dum volvitur orbis! (das Kreuz bleibt bestehen, wenn auch die
Welt umgewälzt wird) steht an diesem Eingang geschrieben, den ehemals ein
Klosterwächter besetzt hielt..., es ist die „sntrss du desert“ der Weg zur Wild-
uis. . . Wer hinaufsteigt, um oben in der Kartause als Büßer sein bleibend
uartier zu nehmen, mag zum letztenmal hier halten und der Welt hinter ihm
ein jenseits dieses Tores beginnt die Wüste, und irgend ein Tourist oder
elner er Landschaftsmaler, von deren Anwesenheit hierorts mannigfache von der
jj e e ^gestrichene und am Fels vertrocknete Farbenreste Zeugnis geben, hat
arum nnt Bleistift die Dantesche Inschrift des Höllentores: xsr ms si va nella
ci a olente u.s.w. (durch mich gelangt man in die Stadt der Schmerzen) an die
Mauer angemerkt.
Weiter oben fällt dem Wandersmann ein Wasserfall in die Augen, der durch
aru er gestürzte Felsen überbrückt ist, ähnlich dem Golinger im Salzburgischen ...,