Full text: Quellenlesebuch (Heft 5. Erg.-H)

15. Das Mittelalter als Grundlage der Neuzeit. 
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des imperium Romanum zu ringen. Sein vornehmster Träger blieb die Kirche mit 
ihrem Oberhaupte. Aber widerspmchsvoll, wie sich geschichtliche Entwicklung zu voll- 
ziehen Pflegt, wurde das römische Kaisertum gerade durch den deutschen König 
Otto I. eine Art dauernder Institution und trat in engste Verbindung gerade mit 
dem reinsten germanischen Staatswesen des Abendlandes. Seine Geltung war doch 
nur ein Schatten dessen, was ursprünglich vorgeschwebt hatte. 
Die staatliche Gliederung, die sich nach unendlichen Wirren in bunter Mischung 
dem mittelalterlichen Leben entrang, stand auf nationaler und dynastischer Grund- 
läge. Von einer politischen Einheit gegenüber der außerchristlichen Welt konnte nicht 
die Rede sein. In doppelter Beziehung stand man ungünstiger als einst das Römische 
Reich; man war an Besitztum geschmälert, und was an Kräften vorhanden war, 
entbehrte jeder Zusammenfassung. Daß die Kirche eine war, konnte dafür keinen 
Ersatz bieten. Die oft wiederholten Versuche der Päpste, die Christenheit zum Kampfe 
gegen die Ungläubigen zu sammeln, haben einen Erfolg nicht gehabt und konnten 
ihn nicht haben, wären sie auch ernstlicher gemeint gewesen, als es vielfach der 
Fall war. 
Trotzdem ist die gewaltige römische Welt in Trümmer gegangen; aus dem engen, 
zerfahrenen Mittelalter aber erwuchs die Neuzeit, die europäischem Wesen den Erd- 
kreis öffnete. Wie konnte das geschehen? Die Antwort kann nicht gegeben werden, 
ohne daß man sich die Art mittelalterlichen Geistes und mittelalterlicher Lebenssor- 
men vergegenwärtigt. 
Seit Jakob Burckhardt seine glänzende „Kultur der Renaissance" schrieb, ist es 
ein Gemeinplatz geworden, daß die von Italien ausgehende Geistesbewegung mit dem 
ins Französische übersetzten Namen die Geburtsstunde der Individualität bedeute. 
Die Auffassung wird dauernden Wert behaupten, soweit künstlerisches Gestalten in 
Frage kommt. Über dieses Gebiet hinaus kann sie berechtigte Geltung nicht be¬ 
anspruchen. Wer sie vertritt, urteilt nach dem, was das Mittelalter schriftlich und bild¬ 
lich über seine Menschen zu sagen wußte, nicht aber nach dem, was sie taten. 
Wenn es irgendeine Zeit gegeben hat, in der die Einzelpersönlichkeit entwickelt 
war, so war es das Mittelalter, und gerade von der Renaissance kann man sagen, 
daß sie einen starken Anstoß gab, der Individualität der Tat Schranken zu ziehen. 
Nur dem oberflächlichen Blick, der Zeit und Ort nicht scheidet, erscheinen Ritter und 
Mönch, Bürger und Bauer, Kaufmann und Zunftgenosse des Mittelalters als feste, 
unveränderliche Typen. Wer näher hinsieht, erkennt alsbald die unendliche Mannig- 
faltigkeit der Hergänge und Verhältnisse und die Fülle starker Persönlichkeiten, die 
ihre Umgebung zu formen vermochten. 
Es gab kaum ein Gesetz, das nicht Ausnahmen hätte dulden müssen, kaum eine 
Ordnung, die nicht durchbrochen worden wäre. Selbst die Kirche, die an Einheit¬ 
lichkeit jede andre Institution weit übertraf, konnte sich diesem Geist der Zeit nicht ent¬ 
ziehen. In Ordens- und Weltgeistlichkeit, in kirchlicher Übung und religiösem Leben, 
in Gliederung und Verwaltung, im Dienen und Herrschen zeigt sie von Island bis 
Sizilien eine Vielgestaltigkeit, von der die Gegenwart in ihrer den ganzen Erdball 
umspannenden Organisation kaum noch die Spuren bewahrt hat. 
Erst das Zeitalter der Aufklärung, das vom Mittelalter nur noch die ihres Inhalts 
beraubten Formen kannte und selbst nicht zur Entfaltung gelangen konnte, ohne 
diese zertrümmert und hinweggeräumt zu haben, hat der media aetas, den mittlem 
Jahrhunderten, die vom Licht klassischer Bildung nicht umstrahlt schienen, wie den 
Namen, so den Charakter des Starren, Rückständigen, Verknöcherten beigelegt und dem
	        
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