Full text: Neueste Geschichte von 1815 bis zur Gegenwart (Teil 3)

Der Krieg von 1870/71 und die Gründung des Deutschen Reiches. 245 
und dem Verluste mancher Chance zugetrieben werden, die sich ihnen jetzt noch 
in den Konferenzen darbot. 
Bismarck verhandelte nun an erster Stelle mit Bayern; hier war er 
zu jenen starken Zugeständnissen an die besondere geschichtliche Stellung des 
Landes bereit, welche die heutige Reichsverfassung aufweist. Darauf kam man 
rasch zum Abschluß: am 23. November abends war die deutsche Einheit, und 
wie wir aus den parallelen Münchener und Hohenschwangauer Vorgängen 
wissen, auch die deutsche Kaiserwürde nahezu gesichert. 
Darauf ließ sich natürlich auch die Sonderstellung Württembergs nicht 
mehr halten; am 25. November hat es den Vertrag unterzeichnet, der seine 
Lage in der heute aus der Reichsverfassung bekannten Weise regelt. Damit 
war denn die Einheit hergestellt, soweit sie auf Verträgen der deutschen Bundes- 
sürsten und freien Städte beruhen konnte. Allein noch bedurften diese Ver- 
träge der Zustimmung des Bundesrats des Norddeutschen Bundes, des nord- 
deutschen Reichstages und der vier süddeutschen Parlamente. 
Im Bundesrat nahm man sie natürlich ohne Schwierigkeiten an, wenn 
auch die besondere Behandlung Bayerns manchen Tadel erfuhr; zugleich wurde 
für den neuen Bund die Bezeichnung »Reich« beschlossen und der Kaisertitel 
für den Bundespräsidenten, den König von Preußen, freudig gebilligt. Der 
Reichstag war am 24. November zusammengetreten. Auch in ihm riefen 
die, wie es schien, übermäßigen Zugeständnisse an Bayern manch scharfes 
Wort hervor. Im ganzen aber stimmte man am 9. Dezember mit 195 gegen 
32 Stimmen auch dem Vertrage mit Bayern zu. Die Verhandlungen in 
den süddeutschen Parlamenten aber haben dann nicht mehr viele 
Schwierigkeiten gemacht; nur in Bayern widerstrebte in der Kammer der 
Abgeordneten wiederum die klerikale »Patriotenpartei« unter Jörg, bis 
endlich die Mehrheit, gegen den Bericht der Kommission, am 22. Januar 1871 
— nach ber Kaiserproklamation von Versailles und somit nicht, ohne sich 
geschichtlich lächerlich zu machen — ihre Zustimmung gab. 
Inzwischen aber waren bie Dinge in Versailles ihren raschen und nun- 
mehr auch sicheren Gang fortgeschritten. Nach Ratifikation ber November¬ 
verträge bot König Ludwig II. von Bayern . . . bem König Wilhelm als 
Bunbespräsibenten ben Titel eines beutschen Kaisers an, unb König Wilhelm 
konnte sich biesem Antrage, ber inzwischen bie Zustimmung aller Fürsten und 
freien Städte gefunden hatte, nicht versagen, mit wieviel Bebenken auch immer 
er in seinem rein altpreußischen Wesen bie Aussicht auf bie neue Würbe be¬ 
gleitete. Nachdem aber fein Wille zur Annahme bekannt geworden war, regte 
sich auch der norbbeutfche Reichstag. Eine Deputation von 30 seiner Mit- 
glieber, an ber Spitze Simson, ber Präsident ber Nationalversammlung von 
1848, begab sich nach Versailles, um beu König zu begrüßen unb zu beglück- 
wünschen. König Wilhelm empfing sie am 18. Dezember 1870 unb erklärte, 
er werbe vom 1. Januar 1871 an bie neue Würbe, die Volk unb Fürst ver- 
eint ihm angeboten, annehmen. 
Am 18. Januar erfolgte bann die feierliche Proklamation 
des Kaisertums im Spiegelsaale bes Versailler Schlosses, von 
dessen Wänben jene Silber aus ber Zeit Ludwigs XIV. herabsehen, die 
französische Triumphe vornehmlich über deutsche Heere verherrlichen; es war 
170 Jahre nach der Erwerbung ber Königswürbe durch bie Hohenzollern. 
Nach kurzem Gottesdienst schritt der greise König ber Bühne bes Saales zu,
	        
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