Full text: Deutsche und brandenburgisch-preußische Geschichte von 1648 bis 1815 (Teil 2)

Preußen unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. 105 
Selbstsucht vor allem darauf, daß ihm in Österreich kein Nebenbuhler auf 
handelspolitischem Gebiete erstand. Im Nordosten Europas hatte Schweden 
seine führende Stellung an Rußland abtreten müssen, das sich seit den Er¬ 
folgen des nordischen Krieges immer mehr als Großmacht aufzuspielen begann. 
So standen sich seit dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts die vier 
Hauptmächte Europas in mannigfachem Interessengegensätze gegenüber. Aufrecht¬ 
erhaltung der bestehenden Machtverteilung war der oberste Grundsatz 
der politischen Bewegungen der nächsten Zeit. 
b. Da die männliche Linie der Habsburger mit Kaiser Karl VI. aus¬ 
starb, mußten die Bemühungen der österreichischen Staatskunst zunächst darauf 
gerichtet sein, durch Sicherung der weiblichen Erbfolge die Einheit der habs¬ 
burgischen Monarchie zu erhalten. 
a. Bei dem ausgesprochenen Antagonismus der nahe verwandten wittels- 
bachischen und habsburgischen Fürstenhäuser und der altüberlieferten Feind¬ 
schaft zwischen Frankreich und Österreich war zu erwarten, daß die alleinige 
Erbfolge der Tochter Karls VI. auf den Widerspruch des von Frankreich 
unterstützten Bayerns stoßen würde. 
ß. Daher setzte Karl VI. alles daran, den Bestand der habsburgischen 
Staatseinheit für die Zukunft sicherzustellen und — mit Umgehung des Familien¬ 
statuts der Habsburger — seine älteste Tochter Maria Theresia zur Allein¬ 
erbin zu machen; im Jahre 1713 erließ er ein neues Erbfolgegesetz, das die 
Unteilbarkeit der habsburgischen Besitzungen festlegte und Maria Theresia zur 
Nachfolgerin Karls VI. bestimmte („pragmatische Sanktion"). Statt nun aber 
die Unanfechtbarkeit der pragmatischen Sanktion auf den starken Schutz eines 
wohlorganisierten Staatswesens zu gründen (Reform der Staatsverwaltung, 
des Finanz- und Heerwesens), erblickte Karl VI. das letzte Ziel seiner Politik 
darin, dem neuen Erbfolgegesetze die Anerkennung der Stände der habs¬ 
burgischen Territorien und des Auslandes zu verschaffen. 
/. Allein trotz aller Opfer, die der Kaiser der Durchführung dieses 
Gedankens darbrachte, waren die mit dem Auslande abgeschlossenen Verträge 
doch nur von bedingtem Werte: es lag auf der Hand, daß sie bindende Kraft 
nur dann besitzen würden, wenn Österreich in der Lage war, ihre Respektierung 
zu erzwingen. 
e. Die spanisch-österreichische Annäherung drohte das Gleichgewicht der 
europäischen Mächte zu zerstören und rief daher ein Bündnis der See¬ 
mächte und Frankreichs hervor. 
a. Die Beziehungen Spaniens zu Frankreich waren dadurch gelockert 
worden, daß der junge König Ludwig XV. sein Verlöbnis mit der Tochter 
Philipps V. von Spanien aufgelöst hatte. Durch Vermittlung eines spanischen 
Diplomaten (Ripperda) verabredeten nun die Höfe von Wien und Madrid ein 
Bündnis, das sich gegen die „Ungläubigen" (Protestanten) und die Seeherr¬ 
schaft Englands richtete und durch eine Familienverbindung (Heirat zwischen 
dem Jnfanten und Maria Theresia) befestigt werden sollte. Österreich erlangte 
dabei natürlich die Anerkennung der pragmatischen Sanktion von seiten Spaniens. 
ß. Die Annäherung Spaniens und Österreichs veranlaßte die Seemächte 
und Frankreich, sich gegen eine etwaige Wiederherstellung eines spanisch-habs- 
burgischen Übergewichts zusammenzuschließen. Der Bund der Westmächte er¬ 
schien um so notwendiger, als Schweden und Rußland, die sich schon längst 
im Interesse der Rückgabe der an Dänemark abgetretenen Besitzungen des
	        
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