Preußen unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. 105
Selbstsucht vor allem darauf, daß ihm in Österreich kein Nebenbuhler auf
handelspolitischem Gebiete erstand. Im Nordosten Europas hatte Schweden
seine führende Stellung an Rußland abtreten müssen, das sich seit den Er¬
folgen des nordischen Krieges immer mehr als Großmacht aufzuspielen begann.
So standen sich seit dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts die vier
Hauptmächte Europas in mannigfachem Interessengegensätze gegenüber. Aufrecht¬
erhaltung der bestehenden Machtverteilung war der oberste Grundsatz
der politischen Bewegungen der nächsten Zeit.
b. Da die männliche Linie der Habsburger mit Kaiser Karl VI. aus¬
starb, mußten die Bemühungen der österreichischen Staatskunst zunächst darauf
gerichtet sein, durch Sicherung der weiblichen Erbfolge die Einheit der habs¬
burgischen Monarchie zu erhalten.
a. Bei dem ausgesprochenen Antagonismus der nahe verwandten wittels-
bachischen und habsburgischen Fürstenhäuser und der altüberlieferten Feind¬
schaft zwischen Frankreich und Österreich war zu erwarten, daß die alleinige
Erbfolge der Tochter Karls VI. auf den Widerspruch des von Frankreich
unterstützten Bayerns stoßen würde.
ß. Daher setzte Karl VI. alles daran, den Bestand der habsburgischen
Staatseinheit für die Zukunft sicherzustellen und — mit Umgehung des Familien¬
statuts der Habsburger — seine älteste Tochter Maria Theresia zur Allein¬
erbin zu machen; im Jahre 1713 erließ er ein neues Erbfolgegesetz, das die
Unteilbarkeit der habsburgischen Besitzungen festlegte und Maria Theresia zur
Nachfolgerin Karls VI. bestimmte („pragmatische Sanktion"). Statt nun aber
die Unanfechtbarkeit der pragmatischen Sanktion auf den starken Schutz eines
wohlorganisierten Staatswesens zu gründen (Reform der Staatsverwaltung,
des Finanz- und Heerwesens), erblickte Karl VI. das letzte Ziel seiner Politik
darin, dem neuen Erbfolgegesetze die Anerkennung der Stände der habs¬
burgischen Territorien und des Auslandes zu verschaffen.
/. Allein trotz aller Opfer, die der Kaiser der Durchführung dieses
Gedankens darbrachte, waren die mit dem Auslande abgeschlossenen Verträge
doch nur von bedingtem Werte: es lag auf der Hand, daß sie bindende Kraft
nur dann besitzen würden, wenn Österreich in der Lage war, ihre Respektierung
zu erzwingen.
e. Die spanisch-österreichische Annäherung drohte das Gleichgewicht der
europäischen Mächte zu zerstören und rief daher ein Bündnis der See¬
mächte und Frankreichs hervor.
a. Die Beziehungen Spaniens zu Frankreich waren dadurch gelockert
worden, daß der junge König Ludwig XV. sein Verlöbnis mit der Tochter
Philipps V. von Spanien aufgelöst hatte. Durch Vermittlung eines spanischen
Diplomaten (Ripperda) verabredeten nun die Höfe von Wien und Madrid ein
Bündnis, das sich gegen die „Ungläubigen" (Protestanten) und die Seeherr¬
schaft Englands richtete und durch eine Familienverbindung (Heirat zwischen
dem Jnfanten und Maria Theresia) befestigt werden sollte. Österreich erlangte
dabei natürlich die Anerkennung der pragmatischen Sanktion von seiten Spaniens.
ß. Die Annäherung Spaniens und Österreichs veranlaßte die Seemächte
und Frankreich, sich gegen eine etwaige Wiederherstellung eines spanisch-habs-
burgischen Übergewichts zusammenzuschließen. Der Bund der Westmächte er¬
schien um so notwendiger, als Schweden und Rußland, die sich schon längst
im Interesse der Rückgabe der an Dänemark abgetretenen Besitzungen des