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Gemütstiefe und Gelehrsamkeit zum Wohle der studierenden Jugend zu
verwenden. Er erreichte es, daß der Kurfürst im Jahre 1508 Luther als
Professor nach Wittenberg berief. So trat Luther aus der Klosterzelle in
das öffentliche Leben, doch nahm er auch in Wittenberg seine Wohnung
in dem dortigen Augustinerkloster. Neben seinen Lehrstunden an der
Universität wirkte er aber auch auf Betreiben seines Gönners Staupitz als
Geistlicher. Er bestieg die Kanzel und war in kurzem der beliebteste
Prediger der Stadt. Damit kam Luther in die ihm recht eigentlich zu-
sagende Tätigkeit der Seelsorge, und er sammelte eine zahlreiche Gemeinde
um sich, deren Seelenheil ihm Gewissenssache war. Allmählich erwarb er
die höchsten gelehrten Auszeichnungen. Als er die in damaliger Zeit be-
sonders angesehene Würde eines Doktors der heiligen Schrist erhielt
(1512), schwur er, die Wahrheit des Evangeliums nach Kräften zu ver-
teidigen. Bon nun an beschäftigte er sich eifrig mit dem Grundtexte der
Bibel und vor allem mit dem Studium der Paulinischen Briefe; er wurde
in dem Buch der Bücher heimisch wie kein anderer. Daneben pflegte er
auch die humanistischen Studium und stand mit deren Vertretern in Ver¬
bindung. Dennoch würde er bei seiner großen Ehrfurcht vor dem Papst
und der Kirche, wiewohl er mit eigenen Augen ihre tiefen Schäden bei
einer Reife nach Rom (1511) in erschreckendster Gestalt wahrgenommen
hatte, niemals zu einem öffentlichen Angriff auf die alten Einrichtungen
übergegangen fein, wenn nicht ein himmelschreiender Mißbrauch ihn in
seiner Eigenschaft als Seelsorger berührt hätte.
b) Der Ablatzstreit.
1. Luthers 95 Sätze gegen den Ablaß. Seit alter Zeit lehrte die
Kirche, daß bei begangenen Sünden an Stelle der kirchlichen Strafen gute
Werke, wie Almosen, Fasten, Wallfahrten, treten dürften. Später hatten
die Päpste behauptet, die Heiligen hätten überflüssig viel gute Werke ver-
richtet; so habe sich ein Schatz davon angesammelt, über den die Kirche
ebenso wie über die unerschöpflichen Verdienste Christi zu Gunsten anderer
zu verfügen hätte. Anfänglich war nun an diesen Ablaß, d. h. Erlaß,
die Bedingung der Reue geknüpft worden; allmählich verkauften ihn aber
die Päpste für Geld. Der Unfug steigerte sich nach und nach so weit,
daß man um hohe Summen Vergebung für jede, selbst zukünftige Sünden
kaufen konnte.1) Im Jahre 1517 nun schrieb der verschwenderische Papst
Leo X. aus dem kunstsinnigen Hause der Medici einen allgemeinen Ab-
laß aus, dessen Ertrag hauptsächlich für den Weiterbau der herrlichen
x) Quellenstück: Mykonius und der Ablaßhändler Tetzel in Annaberg.