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Unsichtbarem Geißelhiebe 
Beugt sie sich in Qual und Liebe, 
Auf den zarten Knien liegend, 
Enge sich zusammenschmiegend. 
Flehend halb, und halb geduldig, 
Trägt sie Schmach und weiß sich schuldig, 
Ihre Schmerzensblicke fragen: 
„Liebst du mich? und kannst mich schlagen?“ 
Soll dich der Olymp begrüßen, 
Arme Psyche, mußt du büßen! 
Eros, der dich sucht und peinigt, 
Will dich selig und gereinigt. 
In ähnlicher Weise vertiest der Dichter in „Ja“, „Der tote Achill“ und 
„Eine Jungfrau“ das im Bild Geschaute und gibt ihm sein Blut, seinen Geist. 
Wer vor einem Gedicht wie ‚Die gegeißelte Psyche“ noch von einem bloßen 
Formtalent Meyers zu reden wagt, hat schlechterdings keinen Sinn für Lyrik. 
Der Dichter hat freilich niemals in der ebenso leicht wiegenden wie beliebten 
poetischen „Stimmung“ seine Kunst gesucht; stets sind aber seine Gedichte tief 
empfunden, groß geschaut und ebenso groß gestaltet. Innerste Lebensleidenschaft 
brennt in ihnen allen; nur zwingt eine keusche Scham den vornehmen Geist, 
alles Persönliche zurücktreten zu lassen oder doch zu verhüllen. Der Empfindende 
wird es gleichwohl verstehen und erschüttert die Größe dieses Menschen erkennen, 
der, wie sein Michelangelo „In der Sistina“, zu Gott und zu dem Leben betete: 
„Schaff mich — ich bin ein Knecht der Leidenschaft 
Nach deinem Bilde — schaff mich rein und frei! 
Den ersten Menschen formtest du aus Ton, 
Ich werde schon von härterm Stoffe sein, 
Da, Meister, brauchst du deinen Hammer schon, 
Bildhauer Gott, schlag zu! Ich bin der Stein“ 
Meyer hat auch nicht immer sein persönliches Empfinden und Leben 
unter fremden Formen verhüllt. Am wenigsten hat er seine Liebe, mehr schon 
seine Gemütsstimmungen, seinen Glauben und seine Philosophie und am klarsten 
nd größten sein Verhältnis zur Natur ausgesprochen. — 233 
Eigentliche Liebesgedichte sind ihm nicht gelungen, abgesehen von einigen 
tiefen Klagen um die frühverstorbene Jugendliebe, von denen „Lethe“ die schönste 
ist. Doch geben Dichtungen, wie die „Ampel“, „Spielzeug“, deutliches Zeugnis 
von der tiefen Neigung zu seiner spät gefundenen Gaͤttin. 
Um so zahlreicher und vollkommener sind bei Meyer die Gedichte, die 
rus den Erscheinungen der Natur Leben und Schönheit schöpfen. Gerade in 
den Naturgedichten spiegelt sich des Dichters eigenstes Leben und Wesen. Die 
eine Wehmut und Schwermut, die sein Dasein überschattete, prägt sich freilich 
auch hier in Gedichten, wie „Eingelegte Ruder“ und „Ewig jung ist nur die 
onne“, tief aus, wird aber zugleich im Anblick der Schönheiten des Lebens 
ast immer niedergerungen. Meisterhaft versinnbildlicht sich dieser seelische Kampf 
es Dichters mit den dunklen Mächten seines Blutes, über die ihm die Natur 
en Sieg gibt, in dem Gedicht „Schwüle““ 
Trüb verglomm der schwüle Sommertag, 
Dumpf und traurig tönt mein Ruderschlag 
Sterne, Sterne — Abend ist es ja — 
Sterne, warum seid ihr noch nicht da? 
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