14. Das Brot.
Karl bekam an jedem Nachmittage um 4 Uhr ein
Butterbrot zur Vesper. Er begnuͤgte sich damit
und verlangte in der Regel nie mehr.
Seit einiger Zeit jedoch lief er alle Tage mit
seinem Butterbrote weg, kam nach einem Weilchen
wieder und erbat von der Mutter noch ein Stuck
trocknes Brot. Anfänglich achtete die Mutter nicht
darauf, gab ihm, was er verlangte, und dachte: Karl
hat jetzt guten Appetit, wie es scheint.
Weil er aber immer und immer wieder kam, fiel
es ihr doch endlich auf, und sie gab eines Tages
acht, wohin er mit seinem Vesperbrote lief. Da
bemerkte sie, daß er sich in des Nachbarn Stübchen
begab. Sie sah durch das Fenster und bemerkte in
der Stube einen kranken Knaben, dem Karl sein
Butterbrot auf das Bett legte, worauf er, ohne auf den
Dank des Kleinen zu hören, schnell wieder fortlief.
Wie freute sich die Mutter über das mitleidige
Herz ihres Sohnes! Daher also, dachte sie, kommt
sein guter Appetit; deswegen begnügt er sich mit
trocknem Brote. — Die Mutter, um nicht von Karl
bemerkt zu werden, ging schnell nach Hause und
nahm sich vor, Karl auf die Probe zu stellen. Als
er kam und sich, wie gewöhnlich, noch ein Stückchen
trocknes Brot erbat, verstellte sie sich und sagte hart:
Geh, Karl! Du erhältst nichts mehr. Wer wird
so unbescheiden sein, alles doppelt zu verlangen!
Karl wandte sich schweigend nach der Thür, sich
zu entfernen. Aber nun konnte sich das Mutterherz
nicht mehr bezwingen.
Karl, rief die tiefgerührte Mutter, Karl, komm
her und umarme mich, du bist mein lieber, guter
Sohn und sollst Brot haben, so viel du willst.
Karl war ganz erstaunt; als er aber hörte, daß
die Mutter seine Wohlthätigkeit kannte, schämte er sich.