Full text: Neueste Geschichte seit 1815 bis zur Gegenwart (Teil 3)

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bei Verlesung der Proklamation in Spannung. Der Großherzog wich dadurch aus, 
daß er ein Hoch weder auf den Deutschen Kaiser, noch auf den Kaiser von 
Deutschland, sondern auf den Kaiser Wilhelm ausbrachte. Se. Majestät hatte mir 
diesen Verlauf so übel genommen, daß er beim Herabtreten von dem erhöhten 
Stande der Fürsten mich, der ich allein auf dem freien Platze davor stand, 
ignorierte, an mir vorüberging, um den hinter mir stehenden Generalen die Hand 
zu bieten, und in dieser Haltung mehrere Tage verharrte, bis allmählich die gegen-- 
seitigen Beziehungen wieder in das alte Geleise kamen. 
66. 
Die Kaiserproklamation in Versailles. 
18. Januar 1871. 
A. Die Feier. 
Quelle: Brief des Kaisers Wilhelm an die Königin Augusta 
vom 18. Januar 1871. 
Fundort: Erich Brandenburg a. a. O. S. 254—257. 
Versailles, 18. Januar 1871. 
Eben kehre ich vom Schloß nach vollbrachtem Kaiserakt zurück! Ich kann Dir 
nicht sagen, in welcher morosen Emotion ich in diesen letzten Tagen war, teils 
wegen der hohen Verantwortung, die ich nun zu übernehmen habe, teils und vor 
allem über den Schmerz, den preußischen Titel verdrängt zu sehen. In einer 
Konferenz gestern mit Fritz, Bismarck und Schleinitz^) war ich zuletzt so moros, daß 
ich draus und dran war, zurückzutreten und Fritz alles zu übertragen! Erst nach- 
dem ich in inbrünstigem Gebet mich an Gott gewandt habe, habe ich Fassung 
und Kraft gewonnen. Er wolle geben, daß so viele Hoffnungen und Erwartungen 
durch mich in Erfüllung gehen mögen, als gewünscht wurde! An meinem redlichen 
Willen soll es nicht fehlen 
Die Feier ist sehr würdig vor sich gegangen. Das Wetter ist trübe, aber sehr 
mild. Die vielen Ankommenden, das Einrücken der nächststehenden Fahnen und 
Standarten (auch Bayern) usw. gaben dem unbeteiligten Versailles un air de 
fete. Um 12 Uhr versammelten sich die Fürsten in einem der Salons vor der 
galerie des glaces; in den drei darauffolgenden stand meine Stabswache als 
Ehrenwache; Posten auf dem escalier de marbre2) (auf dem die populace in die 
Gemächer der Königin Marie Antoinette drang!!), in cour de marbre eine 
Ehrenwache von meinem 7. Regiment. In der Mitte der Galerie am Fenster 
war der Altar errichtet; zu beiden Seiten längs der Fenster über 150 Soldaten 
mit dem Eisernen Kreuz; gegenüber längs den Spiegel-Embrasuren^) die Offizier- 
korps, mehrere hundert Personen. Am Ende der Galerie war ein Hautpas^) ge- 
stellt, dessen Hintergrund die Fahnen einnahmen (einige 80; inkl. Bayern; Württem¬ 
berg und Sachsen waren aus Konfusion nicht erschienen). Wir stellten uns vis-ä- 
x) Schleinitz war in den fünfziger Jahren Mnister des Auswärtigen (vgl. Nr. 29. 
1. Quelle); damals war er Minister des Königlichen Hauses. 
2) In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober 1780 drang auf dieser Marmortreppe eine 
zügellose Volksmasse in die Gemächer der Königin Marie Antoinette, die sich nur mit 
knapper Not vor den Mordbanden rettete. 
3) Spiegelrahmen. 
4) Erhöhter Tritt.
	        
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