162 Die geistige Entwicklung in ihren Hauptzügen 
gedankens, die dem deutschen Geiste sehr weit entgegenkam. Zur Stärkung 
und Verinnerlichung des neuen Glaubens dienten Predigt und Lehre, Lied 
und Spruch, Erbauuugs- und Streitschrift, die im 16. Jahrhundert hüben 
und drüben einen außerordentlichen Aufschwung nahmen. Und vielleicht das 
köstlichste Geschenk des protestantischen Geistes war das evangelische Pfarr¬ 
haus, von dem unermeßliche Segensströme in unser Volk ausgegangen sind. 
Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Befruchtung unseres geistigen 
und völkischen Lebens durch das Luthertum auch ihre Grenzen hatte. Zwar 
war Luther nicht bilderfeindlich oder kunstfremd wie die Reformierten. Aber 
weit entfernt, eine „Kulturreligion" im modernen Sinne zu predigen, hielt 
er an dem Gedanken der Erbsünde fest und wollte die diesseitige Well durch 
das natürliche Sittengesetz und die Gewalt der Obrigkeit eben notdürftig zu¬ 
sammengehalten wissen bis ans die Wiederkehr des Herrn. Als der freudige 
Geist der ersten Geschlechter verdampft war, blieb eine gewisse enge Lebens¬ 
fremdheit übrig, die sich bei den protestantischen Führern des 17. Jahrhun¬ 
derts und des beginnenden 18. Jahrhunderts noch oft genug mit scholasti¬ 
scher Spitzfindigkeit verband. Die calvinistischen Völker fanden in ihrem 
Glauben viel stärkere Antriebe zur Umwandlung der gegenwärtigen Welt 
in einen Gottesstaat aus Erden, was sich für die mächtige Entfaltung einer 
äußeren und doch nicht bloß äußerlichen Kultur als weit fruchtbarer erwies. 
Auf der andern Seite hatte das Luthertum auch wieder den Anschluß an 
jene große religiöse Bewegung innerhalb des Humanismus nicht ge¬ 
funden, die bei uns in Erasmus und Reuchlin gipfelte. 
Zwar ist Luther mit ihnen gern auf die „echten Quellen" zurückgegangen und 
hat des Erasmus kritische Ausgabe des Neuen Testamentes gern benutzt. Aber wenn 
der Humanismus über dem Völkischen das „Menschliche" betonte und die alt ererbte, 
geoffenbarte Religion in einen allgemeinen, jedem vernünftigen Menschen zugäng¬ 
lichen Gottesglauben (einen „universalen Theismus") auflösen wollte, so mußte sich 
Luther nach seiner ganzen Überzeugung gewaltig dagegenstemmen. 
Das kraftvolle Christentum der Tat und des Wortes, das Erasmus 
(vgl. sein ^Handbüchlein des christlichen Ritters") immer im Hinblick auf die 
Bergpredigt forderte, drohte darüber zu kurz zu kommen; gewiß nicht bet 
Luther selbst, der ja gerade den täglichen Beruf mit seiner Pflichterfüllung 
adeln wollte, wie einst Meister Eckhart getan hatte. Aber späterhin, als das 
frische Glaubensleben der „orthodoxen" Lutheraner oft in starre Formeln 
ausartete, mußten sich freier denkende und darum nicht minder fromme und 
deutsch gesinnte Kreise oft genug in geheimen Kreisen, z. B. in den „Sprach- 
gesellschaften" zu ihren gemeinnützigen Werken rüsten. Sie wollten 
alle Errungenschaften der Wissenschaft und Technik dem Volke zugänglich 
machen und mußten zu diesem Zweck vor allem die deutsche Sprache zum
	        
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