Object: Wege zum Staatsgedanken

1. Die deutschen Stämme. 
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ein Mann sich zum Lerzog eines solch' großen Landes machen konnte. 
Ansere Väter waren ein stolzes, freiheitliebendes Geschlecht. Jeder Mann 
trug sein Laupt hoch erhoben, vor niemand wollte er sich beugen, 
denn jeder trug an der Seite und in der Land, was ihn selber 
schützen konnte: sein Schwert, seine Massen. Was brauchte er da 
einen Lerrn, einen Lerzog? Lange Zeit wählten deshalb unsere 
Väter auch nur im Kriege einen Mann, der allen zu befehlen 
hatte; denn sie sagten sich: Im Kriege kann nur einer befehlen, 
sonst gibt es Durcheinander. War aber der Krieg wieder vorbei, 
dann weg mit dem Herzog! Dann lebte jeder wieder zu Lause auf 
seinem Lose, war jeder wieder sein eigener Lerzog, sein eigener 
König. 
Das dünkt einen schön, und man freut sich dieser stolzen, 
freien Männer. And doch ward dieser eigensinnige Stolz 
unserm Volke zum Schaden. Ihr habt vorhin von den ver¬ 
schiedenen deutschen Lerzogtümern gehört und denkt wahrscheinlich, 
die hätten ebenso einig und so treu zusammengehalten, wie die heutigen 
deutschen Staaten im Deutschen Reiche. Wäre es nur so gewesen, 
unserm Volke, unserm Lande wäre unsäglich viel Anglück erspart ge¬ 
blieben. Aber der deutsche Mann vor 1000 Jahren war so eigen¬ 
sinnig auf seine Freiheit versessen, daß er nur an sich dachte, jeder 
nur an seinen Stamm; keinem wäre es eingefallen, nach dem andern 
Stamm zu fragen, geschweige denn, ihm in Kriegsnöten zu helfen. 
Wir haben gesehen, wie leicht man an vielen Stellen die deut¬ 
schen Grenzen überschreiten kann. Nun das machten sich die fremden 
Völker schon damals zu nutze. Vom Norden her übers Meer kamen 
auf kleinen, aber festen Schiffen kühne, waghalsige Seefahrer, wild, 
kriegerisch, tapfer, um zu rauben; denn was man damals mit dem 
Schwerte in der Land erbeutete, galt nicht als gestohlenes Gut: das 
war ehrlich erworben. Normannen wurden diese wilden Männer 
genannt, weil sie aus dem Norden kamen. Sie waren unsern deut¬ 
schen Vorvätern ums Jahr 900 keine ganz Fremden, sie waren ja 
ihre Brüder, beide stammten von einem Volke ab, den Germanen. 
Diese Nordmänner (Normannen) sind in die Wohnsitze der Friesen 
und Sachsen eingefallen, in mächtigen Scharen, haben das Vieh ge¬ 
raubt, die Männer im Kampfe erschlagen, die Frauen als Mägde 
mitgeführt. Wohl waren Friesen und Sachsen tapfere Männer, 
und das Schwert saß ihnen locker in der Scheide. Wohl sprangen 
sie frohen Mutes ins Kampfgetümmel und fochten wie die Löwen. 
Doch die Äberzahl der Normannen war zu groß.
	        
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