1. Die deutschen Stämme.
75
ein Mann sich zum Lerzog eines solch' großen Landes machen konnte.
Ansere Väter waren ein stolzes, freiheitliebendes Geschlecht. Jeder Mann
trug sein Laupt hoch erhoben, vor niemand wollte er sich beugen,
denn jeder trug an der Seite und in der Land, was ihn selber
schützen konnte: sein Schwert, seine Massen. Was brauchte er da
einen Lerrn, einen Lerzog? Lange Zeit wählten deshalb unsere
Väter auch nur im Kriege einen Mann, der allen zu befehlen
hatte; denn sie sagten sich: Im Kriege kann nur einer befehlen,
sonst gibt es Durcheinander. War aber der Krieg wieder vorbei,
dann weg mit dem Herzog! Dann lebte jeder wieder zu Lause auf
seinem Lose, war jeder wieder sein eigener Lerzog, sein eigener
König.
Das dünkt einen schön, und man freut sich dieser stolzen,
freien Männer. And doch ward dieser eigensinnige Stolz
unserm Volke zum Schaden. Ihr habt vorhin von den ver¬
schiedenen deutschen Lerzogtümern gehört und denkt wahrscheinlich,
die hätten ebenso einig und so treu zusammengehalten, wie die heutigen
deutschen Staaten im Deutschen Reiche. Wäre es nur so gewesen,
unserm Volke, unserm Lande wäre unsäglich viel Anglück erspart ge¬
blieben. Aber der deutsche Mann vor 1000 Jahren war so eigen¬
sinnig auf seine Freiheit versessen, daß er nur an sich dachte, jeder
nur an seinen Stamm; keinem wäre es eingefallen, nach dem andern
Stamm zu fragen, geschweige denn, ihm in Kriegsnöten zu helfen.
Wir haben gesehen, wie leicht man an vielen Stellen die deut¬
schen Grenzen überschreiten kann. Nun das machten sich die fremden
Völker schon damals zu nutze. Vom Norden her übers Meer kamen
auf kleinen, aber festen Schiffen kühne, waghalsige Seefahrer, wild,
kriegerisch, tapfer, um zu rauben; denn was man damals mit dem
Schwerte in der Land erbeutete, galt nicht als gestohlenes Gut: das
war ehrlich erworben. Normannen wurden diese wilden Männer
genannt, weil sie aus dem Norden kamen. Sie waren unsern deut¬
schen Vorvätern ums Jahr 900 keine ganz Fremden, sie waren ja
ihre Brüder, beide stammten von einem Volke ab, den Germanen.
Diese Nordmänner (Normannen) sind in die Wohnsitze der Friesen
und Sachsen eingefallen, in mächtigen Scharen, haben das Vieh ge¬
raubt, die Männer im Kampfe erschlagen, die Frauen als Mägde
mitgeführt. Wohl waren Friesen und Sachsen tapfere Männer,
und das Schwert saß ihnen locker in der Scheide. Wohl sprangen
sie frohen Mutes ins Kampfgetümmel und fochten wie die Löwen.
Doch die Äberzahl der Normannen war zu groß.