Full text: Das Altertum, das Mittelalter bis zu Karl dem Großen (Teil 1)

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Die Griechen. 
Aristoteles unterscheidet sich in der Art des Denkens und Darstellens 
sehr von seinem Lehrer. Dieser ist ein genialer Dichtergeist, jener ein scharf- 
sinniger Forscher; an die Stelle der kunstvoll aufgebauten platonischen Dialoge 
tritt der trockenste Abhandlungsstil. Aristoteles hat eine große Menge von 
Schriften hinterlassen, in denen er mit gleichem Interesse fast alle Wissens- 
gebiete behandelt. Er ist der Vater der Logik, die er so ausbaute, daß 
sie bis auf Kant nur unwesentliche Fortschritte zu verzeichnen hat. Von 
der Logik schreitet er fort zur Metaphysik (der Wissenschaft von den letzten 
Gründen). Während Platon von den Ideen ans die Erscheinungswelt zu 
erklären versucht, geht Aristoteles, die Induktion vollständig durchführend, 
überall von den gegebenen Erscheinungen aus; während jener den Ideen 
eine von der Erscheinungswelt getrennte Existenz zuschreibt, sucht dieser die 
Uutreuubarkeit der Allgemeinbegrifse von den Einzelwesen zu beweisen*). Er 
bestimmt das Verhältnis beider zueinander [als das von Form (worunter 
auch die bewegende Ursache und der Zweck zu verstehen sind) und Stoff. 
Die letzte bewegende Ursache ist der alles bewegende, selbst unbewegte gött¬ 
liche Geist. 
Aristoteles ist ferner der Begründer der Psychologie sowie der beschrei- 
benden Naturwissenschaften. Seine botanischen und zoologischen Beob- 
achtuugen, von denen ihm viele nur die freigebige Fürsorge Alexanders 
ermöglichte, blieben bis in die Neuzeit maßgebend. — In der Ethik 
legt er den Hauptnachdruck auf die Tätigkeit, die, wenn sie auf das erreich- 
bare Gute gerichtet ist, mit der Glückseligkeit eins ist. Er betont die sittliche 
Notwendigkeit des Staates, und seine Staatslehre hat einen ähnlichen 
aristokratischen Charakter wie die Platons. — Die aristotelische Dich tungs- 
lehre gewann erst in der Neuzeit den größten Einfluß. 
Aristoteles war der letzte große Philosoph des Altertums. Bei den 
folgenden trat nicht mehr das wissenschaftliche Interesse in den Vordergrund, 
sondern das praktische, einen für das Leben brauchbaren Ersatz zu finden 
für die untergehende Religion und Sittlichkeit der Nation. Die Systeme 
der Stoiker und Epikureer beherrschten fast ein halbes Jahrtausend die 
Anschauungen der Gebildeten. Die Stoiker, genannt nach einer Stoa 
(Säulenhalle) , in der 3ertön, der Stifter der Schule, lehrte, stellten den 
Grundsatz auf: „Lebe naturgemäß!" Hieraus ergibt sich die Unterordnung 
des einzelnen unter das allgemeine Gesetz und somit die Hingabe an die 
Allgemeinheit; daraus folgt der zweite Hauptsatz: „Die Tugend ist das höchste 
Gut", und der dritte: „Der Weise verachtet die äußeren Güter ebenso wie 
die äußeren Übel." Epikur lehrte: „Die Glückseligkeit ist das höchste Gut." 
Von seinen Nachfolgern wurde die Glückseligkeit mehr und mehr als sinnliche 
Lust gefaßt, und so geriet der Epikureismus zum Stoizismus in einen scharfen 
Gegensatz, der ursprünglich nicht vorhanden war. Gegen beide Systeme 
*) Hieran knüpften im Mittelalter die Nominalisten und Realisten an
	        
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