Die Karolinger. — Karl der Große. 63
auch sonst. Wer im Zweikampf siegte, am längsten mit ausgestreckten Armen vor
einem Kreuz stehen konnte (Kreuzprobe), hatte recht. Noch zahlreicher als die
zweiseitigen, waren die einseitigen Gottesurteile. Bei der Feuerprobe mußte der
Angeklagte mit bloßen Füßen über glühendes Eisen oder in einem mit Wachs über-
zogeuen Hemde durch zwei hohe Feuer laufen oder auf bloßen Füßen glühende Kohlen
tragen. Blieb er unverletzt, so war er unschuldig. Beim Kesselfang mußte er
mit bloßem Arm einen Ring aus einem Kessel mit siedendem Wasser nehmen. Bei
der Wasserprobe wurde der Angeklagte auf ein Brett gebunden und ins Wasser
geworfen; ging er unter, so war er unschuldig. Ebenso konnte er seine Unschuld
beweisen, indem er einen geweihten Bissen ohne schlimme Folgen verschluckte
<Abendmahlsprobe). Mörder suchte man durch die Blutprobe oder das Bahrrecht
zu entlarven, indem man den Verdächtigen an die auf einer Bahre liegende Leiche
führte und die Wunden berühren ließ; begannen diese zu bluten, bewegte oder ver-
änderte sich die Leiche, fo galt er als der Mörder.
c. Kriegs- und Lehnswesen. Vor allem sorgte Karl für eine stets
kampfbereite Kriegsmacht. Überall an den Grenzen waren Marken
eingerichtet, deren Bevölkerung stets zum Angriffe und zur Verteidigung
bereit sein mußte und deshalb vom Kriegsdienst im Innern befreit war.
In der Heeresbildung war im Laufe der Zeit eine völlige Änderung ein-
getreten. Freilich bestand noch der alte Heerbann der Freien, die den
Kriegsdienst unentgeltlich zu leisten hatten. Sie dienten nach ihrem Ver-
mögen zu Fuß oder zu Roß; ärmere rüsteten auch wohl in Gemeinschaft
einen kampffertigen Mann aus. Meistens wurden aber nur diejenigen
vom Heerbann aufgeboten, die dem Kriegsschauplatze nahe wohnten. Die
Stärke des Heeres beruhte vielmehr auf den sog. Vasallen oder Lehns-
lenten. Das Lehnswesen führte nicht nur in d£m fränkischen Reiche,
sondern in allen mittelalterlichen Staaten eine völlige Änderung der
Besitzverhältnifse und des Kriegsdienstes herbei. Es beruhte darauf,
daß von dem Landesherrn den Großen des Reichs große Teile von Grund
und Boden zur Nutznießung, nicht als erbliches Gut, übergeben wurden.
Sie waren damit belehnt, weshalb diese Besitztümer als Lehne be-
zeichnet wurden. Die Inhaber derselben hießen Lehnsleute oder
Vasallen; sie waren ganz vom Könige abhängig und diesem zum
Kriegsdienst verpflichtet. Da sie den Kampf als ihre Lebensaufgabe
ansahen und sich unausgesetzt mit kriegerischen Übungen beschäftigten,
gewann der König in ihnen ein stets schlagfertiges Kriegsheer. Zu den
Vasallen gehörten auch die hohen Geistlichen — Erzbischöfe und Äbte —,
die wohl auch als Kriegsleute mit in den Kampf zogen, gewöhnlich aber
durch einen Vogt ihre Mannschaft ins Feld führten. Oft geschah es
auch, daß die großen Lehnsleute von ihrem Lehen oder Eigentum, das
ihnen allein zu groß sein mochte, an andere Freie kleinere Lehen ab-
gaben. Die Inhaber derselben standen alsdann zu ihnen in demselben
Verhältnis, wie sie zum Könige. In Zeiten kriegerischer Not erschien es
dem freien Manne oft von Vorteil, sein freies Besitztum einem Mächtigen