fullscreen: Deutsches Lesebuch für obere Gymnasialklassen

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er den Effect einer großen Kunst empfand, und ich nicht weniger 
glücklich, indem ich in das geheime Gewebe einer vollendeten 
Composition deutlich hineinsah. Ich empfand daran eine gewisse 
Allgegenwart des Gedankens, welches daher entstanden sein mag, 
daß der Dichter den Gegenstand so viele Jahre in seinem Innern 
hegte und dadurch so sehr Herr seines Stoffes ward, daß er 
das Ganze wie das Einzelne in höchster Klarheit zugleich über¬ 
sehen und jede einzelne Partie geschickt dahin stellen konnte, wo 
sie für sich nothwendig war und zugleich das Kommende vorbe¬ 
reitete und darauf hinwirkte. Nun bezieht sich alles vorwärts 
und rückwärts und ist zugleich an seiner Stelle recht, so daß 
man als Composition sich nicht leicht etwas Vollkommneres 
denken kann. Indem wir weiter lasen, empfand ich den lebhaften 
Wunsch, daß Goethe selbst dieses Juwel einer Novelle als ein 
fremdes Werk möchte betrachten können. Zugleich bedachte ich, 
daß der Umfang des Gegenstandes gerade ein sehr günstiges 
Maß habe, sowohl für den Poeten, um alles klug durcheinander 
zu verarbeiten, als für den Leser, um dem Ganzen wie dem Ein¬ 
zelnen mit einiger Vernunft wieder beizukommen.- 
Mittags zu Tisch mit dem Prinzen und Herrn Soret. 
Wir reden viel über Courier und sodann über den Schluß 
von Goethes Novelle, wobei ich die Bemerkung mache, daß Ge¬ 
halt und Kunst darin viel zu hoch stehn, als daß die Menschen 
wüßten, was sie damit anzufangen haben. Man will immer 
wieder hören und wieder sehen, was man schon einmal gehört 
und gesehen hat; und wie man gewohnt ist, die Blume Poesie 
in durchaus poetischen Gefilden anzutreffen, so ist man in diesem 
Falle erstaunt, sie aus einem durchaus realen Boden hervor¬ 
wachsen zu sehen. In der poetischen Region läßt man sich alles 
gefallen, und ist kein Wunder zu unerhört, als daß man es 
nicht glauben möchte; hier aber, in diesem hellen Lichte des 
wirklichen Tages, macht uns das Geringste stutzen, was nur ein 
Weniges vom gewöhnlichen Gange der Dinge abweicht; und 
von tausend Wundern umgeben, an die wir gewohnt sind, ist 
uns ein einziges unbequem, das uns bis jetzt neu war. Auch 
fällt es dem Menschen durchaus nicht schwer, an Wunder einer 
früheren Zeit zu glauben; allein einem Wunder, das heute ge¬ 
schieht, eine Art von Realität zu geben, und es neben dem 
sichtbar Wirklichen als eine höhere Wirklichkeit zu verehren, 
dieses scheint nicht mehr im Menschen zu liegen, oder wenn es
	        
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