— 1606 —
er schenkt uns so viel Freude,
er macht uns frisch und rot,
er gibt dem Viehe Weide
und seinen Menschen Brot.
Alle gute Gabe kommt her von Gott,
drum danket ihm, und hofft auf ihn!
dem Herrn,
Matthias Claudius.
143. Die Kornühren.
Es war einmal eine Zeit, aber das ist schon undenklich lange
her, da trugen alle Kornhalme und auch die von anderem Getreide
volle goldgelbe Ähren herab bis auf den Boden; da gab es keine
Armut und keine Hungersnot, niemals, und das war die goldene
Zeit. Da konnten sich alle Menschen mit Wonne sättigen, und auch
die Vögel, die gerne Körner fressen, Hühner und Tauben und andere,
fanden ihr Futter vollauf.
Aber da waren unter den Menschen welche, die waren un—
dankbar und gottvergessen und achteten die schöne Gottesgabe, das
liebe Getreide, für gar nichts. Da gab es Frauen, die nahmen,
wenn ihre Kinder sich beschmutzten, die vollen Ährenbüschel und
reinigten damit die Kleider der Kinder; und die Mägde scheuerten
mit den vollen Ähren, und die Buben und kleinen Mädchen jagten
sich durch das liebe Korn, spielten Verstecken darin, wälzten sich
darauf herum und zertraten es. Das jammerte den lieben Gott,
der das Getreide den Menschen zur Nahrung gegeben hatte und
dem Vieh zum Futter und nicht zum Verwüsten, und dachte bei
sich, wir wollen es anders machen, und die goldene Zeit soll ein
Ende haben.
Und da schuf der liebe Gott, daß hinfort jeder Halm nur eine
einzige Ähre trug, einmal für die Menschen, damit sie das liebe
Getreide besser schonen lernten, und einmal für die unschuldigen
Tiere, damit sie doch noch ihr Futter haben sollten, wenn auch die
Menschen nicht einmal die eine Ähre wert wären.
Von da an ist die Teuerung und Armut in die Welt ge—
kommen. Nur zuweilen und selten läßt der liebe Gott da oder
dort einen Wunderhalm mit vielen, vielen Ähren emporschießen und
zeigt so dem Menschen, wie es einst beschaffen war um das Ge—
treide, und was er kann. Und es geht eine alte Prophezeiung
unter dem Volke, daß einmal nach langen Jahren der Boden auch