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darüber hinausgeht, bedarf es eines persönlichen Gefühls von Gegenseitigkeit,
das bewirkt, daß treue Herren treue Diener haben, deren Hingebung über das
Maß staatsrechtlicher Erwägungen hinausreicht.
Es ist eine Eigentümlichkeit realistischer Gesinnung, daß ihren Träger,
auch wenn er sich bewußt ist, die Entschließungen des Königs zu beeinflussen,
das Gefühl nicht verläßt, der Diener des Monarchen zu sein. Der König
selbst rühmte eines Tages (1865) gegen meine Fran die Geschicklichkeit, mit
der ich seine Intentionen zu erraten und — wie er nach einer Pause hinzu-
setzte — zu leiten wußte. Solche Anerkennungen benahmen ihm nicht das
Gefühl, daß er der Herr und ich sein Diener sei, ein nützlicher, aber ehr¬
erbietig ergebener ... Er hatte das königliche Gefühl, daß er es nicht nur
vertrug, sondern sich gehoben fühlte durch den Gedanken, einen angesehenen
und mächtigen Diener zu haben. Er war zu vornehm für das Gefühl eines
Edelmannes, der keinen reichen und unabhängigen Bauern im Dorfe vertragen
kann. Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke einer Eifersucht auf
seinen Diener und Untertanen in den Sinn, und nicht einen Augenblick ver-
ließ ihn das königliche Bewußtsein, der Herr zu sein, ebenso wie bei mir alle,
auch übertriebene Huldigungen das Gefühl, der Diener dieses Herrn zn sein,
in keiner Weise berührten. Diese Beziehungen und meine Anhänglichkeit
hatten ihre prinzipielle Begründung in einem überzeugungstreuen Royalismus;
aber in der Spezialität, wie er vorhanden war, ist er doch nur möglich unter
der Wirkung einer gewissen Gegenseitigkeit des Wohlwollens zwischen Herrn
und Diener, wie unser Lehnrecht die „Treue" auf beiden Seiten zur Voraus-
setzung hatte.
XXXI. Kaiser Friedrichs in. Thronbesteigung.
9. Mär) 1888.
An Mein Volk!
Aus seinem glorreichen Leben schied der Kaiser.
In dem vielgeliebten Vater, den Ich beweine, und um den mit Mir Mein
königliches Haus in tiefstem Schmerze trauert, verlor Preußens treues Volk
feinen ruhmgekrönten König, die deutsche Nation den Gründer ihrer Einigung,
das wiedererstandene Reich den ersten deutschen Kaiser! Unzertrennlich wird
sein hehrer Name verbunden bleiben mit aller Größe des deutschen Vaterlandes,
in dessen Neubegründung die ausdauernde Arbeit von Preußens Volk und
Fürsten ihren schönsten öohn gefunden hat. Indem König Wilhelm mit nie
ermüdender landesväterlicher Fürsorge das preußische Heer auf die Höhe seines
ernsten Berufes erhob, legte er den sichern Grund zu den unter seiner Führung
errungenen Siegen der deutschen Waffen, aus denen die nationale Einigung
hervorging. Er sicherte dadurch dem Reiche eine Machtstellung, wie sie bis
dahin jedes deutsche Herz ersehnt, aber kaum zu erhoffen gewagt hatte.
Und was er in heißem, opfervollem Kampfe seinem Volke errungen, das
war ihm beschieden, durch lange Friedensarbeit mühevoller Regierungsjahre
zu befestigen und segensreich zu fördern. Sicher in seiner eigenen Kraft ruhend,