Charakter und Gang der Geschichte des Mittelalters. 5
Die Geschichte der Deutschen greift zurück ins Altertum, wo die
Germanen in der Zerstreuung lebten. Da ist sie deutsche Stammes-
geschichte, zeigt die Germanen in den Urzuständen, mit denen sie in der
Geschichte auftreten, abgesondert in viele Stämme, und umfaßt die deut-
schen Wander-, Freiheits- und Angriffskriege gegen die Römer und das
Auftreten der Germanen in größeren Völkerheeren während der großen
Völkerwanderung bei der Gründung germanischer Reiche. Dann kon¬
zentriert sich die deutsche Geschichte in der Geschichte des Reiches der
Franken, das die meisten germanischen Völkerschaften in sich vereinigt,
die zugleich iu die römische Kirche eingefügt werden, bis nach Auflösung
des Reiches Karls d. Gr. ein abgesondertes deutsches Reich mit einer
deutschen Ration entsteht. Und nun- beginnt mit der Blütezeit des
Mittelalters die deutsche Kaisergeschichte, die das deutsche Kaiser-
tum iu seiner Machtfülle, den Kampf zwischen Kaiser und Papst
und den Sieg des Papsttums zeigt durch die Geschichte der drei
großen Kaiserhäuser, Sachsen, Franken und Staufer, hindurch
bis zur Vollendung der Weltherrschaft der römischen Kirche. Mit dem
Untergange der Staufer, dem Sturze des auf Weltherrschaft gerichteten
römisch-deutschen Kaisertums und dem Emporkommen der auf Gründung
einer Hausmacht bedachten Habsburger wird die deutsche Geschichte
Fürsten- und Ländergeschichte. 1 Der auf dem Lehnswesen beruhende
Staatsverband des mittelalterlichen Reiches löst sich, die Territorial-
hoheit der Reichsfürsten befestigt sich; es ist die Zeit der Blüte des
deutschen Städtewesens, der Beginn der Geldwirtschaft, der Verwilde-
rnng des niederen Adels, der Zunahme bäuerlicher Unfreiheit. Während
die Weltherrschaft des deutschen Kaisertums in dem südlichen und west¬
lichen Europa zurückgeht, erweitert sich deutscher Einfluß durch groß-
artige Kolonisation der Slawenländer im Osten. Es beginnt der Kampf
gegen die römische Hierarchie, und er führt zur deutschen Reformation
der Kirche. Mit ihr geht die neue Zeit auch des deutschen Lebens auf.
Aus der alten Welt hatten die Deutschen das Christentum und
zahllose Traditionen römischer Kultur empfangen, dadurch hatte ihr
ganzes Leben eine Umbildung erfahren. Dies hatte den Sturz des
alten Götterglaubens und deutscher Ursitte zur Folge und übte
zunächst keinen segensreichen Einslnß, fondern führte in den Stürmen der
Völkerwanderung vorerst nur zu einer Vernichtung vieler Keime alt-
nationalen Lebens, zu einer erschreckenden Roheit und Verderbtheit der
Volksznstände und des Volkscharakters. Das ganze Mittelalter hin-
durch waren die Deutschen mit der Arbeit der Aneignung uud
nationalen Umprügung der Erbschaft des Altertums beschäftigt,
und erst nach und nach entfaltete sich aus dem Chaos der Völkerwanderung
heraus, in dem das alte Germanentum zu Grunde ging, besonders unter
schöpferischer Mitwirkung des Christentums und unter fortgehenden
romanischen Einflüssen von Italien her, im deutschen Reiche des Mittel-
alters die deutsche Volksart von neuem, die des Preises der Dichter
und fortwährender Erhaltung und Erneuerung wert ist.