288
Zweite Abteilung. Kulturgeschichtliche Einzelbilder.
Zweite Abteilung.
Kulturgeschichtliche Linzelöilder.
I. Deutscher Köttergtauöe.
I. Götterlehre und Gottesdienst.
„Deutscher Art angemessen ist ein sinniger Ernst, der sie dem Eitlen
entführt und auf die Spur des Erhabenen leitet" — sagt I. Grimm,
dessen mühevolle Forschungen über deutsche Sprache, deutschen Glauben
und deutsches Recht das deutsche Altertum in bis dahin ungeahnter Weise
aufgeschlossen haben. Dies Wort gilt auch von der deutschen Mythologie,
deren Schöpfer er ist. Wenn die aus der Urheimat der arischen Völker
mitgebrachten Keime heidnischer Götterlehre unter der schöneren Sonne
des Südens bei Griechen und Römern üppiger, glänzender und mannig-
faltiger gediehen, so zeigt die deutsche Götterlehre dagegen reinere
Spuren religiöser Grundwahrheiten, weniger überwuchert vom üppigen
Spiele der Phantasie. Zwischen der Mythologie der skandinavischen
Germanen, die in den beiden Edden und zahlreichen Sagen enthalten ist,
und der deutschen finden sich vielfache Übereinstimmungen, sowvhl
in den Namen der Gottheiten, als in vielen einzelnen Mythen; doch ent-
wickelte sich jene viel länger, bis ins zehnte Jahrhundert, und gestaltete
sich dichterisch weiter, namentlich in Island. Hier schlug der Geist
germanischer Vorzeit seinen Thron auf zwischen Eis und Schnee, glühenden
Lawaströmen und brodelnden Schlammquellen, während im übrigen Europa,
wo das Heidentum früher erlosch, schon das christliche Mittelalter herrschte.
Noch aber durchziehen bis heute zahlreiche Überreste alten deutschen
Götterglaubens das deutsche Volksleben in seinen Sagen und Märchen,
Festen und Gebräuchen und bilden die Grundlage des Volksaberglau-
bens. Ein inniges Gefühl der Nähe der Gottheit und der Liebe zu
ihr war den alten Germanen eigen; sie sprechen sich noch in jenen mittel-
alterlichen Formeln aus, die ohne Zweifel weit in die heidnische Zeit
hinaufreichen und unserer Zeit mehr und mehr verloren gehen, wie der
Gruß und Wunsch: Bis Gott willkommen und mir! Gott befohlen! —
und die bittere Klage oder feierliche Beteuerung: Das weiß Gott und
ich! So heißts im Nibelungenliede: „Den Schatz weiß nun niemand, als
Gott und ich" und im Eckenliede: „Hier hört uns niemand als Gott und
die Waldvöglein." — Die so vielen alten Völkern gemeinsame Dreiheit
der oberen Götter spaltet sich bei den Griechen in eine Zwölfzahl, sechs
Götter und sechs Göttinnen, so in der nordischen Götterlehre, die aber
zwölf Götter oder Afen, d. i. Balken, Träger der Welt, und zwölf
Afinnen zählt; in Deutschland ist diese geschlossene Zwölfzahl jedoch
noch nicht vollständig aufgefunden.