290 Zweite Abteilung. Kulturgeschichtliche Einzelbilder.
hohen Turmgemache herab die ehrerbietig Harrenden hörten; furchtbar
war die Weissagung bei den Kimbern (1. Abt. § 10.)
2. Einzelne Götter und Göttinnen.
Wuotan (im Norden Odin), d. i. (Sturm, Geist, Verstand, ist die
alldurchdringende, bewegende, schaffende und bildende Kraft, der Weltgeist,
welcher allen Wesen nud Dingen in der Natur Gestalt und Schönheit
verleiht und im Gemüte der Quell jeder höheren Bewegung, der
Liebe, der Dichtkunst ist, selbst der Liederschmiede bester. Er begeistert
zum Kampf, lenkt Krieg und Sieg, ohne persönlich an der Schlacht
teilzunehmen. „Die Schwäne des Himmels, die lichten Wolkenfrauen,
werden zu seinen Schlachtenmädchen und Totenwählerinnen oder Wal-
küren, die auf tautriefenden Rossen, ein Schwanenkleid über dem
schimmernden Panzer, um das Gefilde des Kampfes schweben und die
Krieger erkiesen, die den Heldentod sterben sollen, und die von ihnen
heimgeholt werden in Odins Heer, dort ewig mit ihm an Kamps und
Sieg, an Festgelag und Gesang sich zu freuen, wo nun die Walküren den
Becher füllen." Wuotan saust in hoher Waffenherrlichkeit auf weißem
Rosse an der Spitze des ganzen Heldenheeres zu Krieg und Jagd durch
die Lüfte. Er lebt so als Sturmgott noch fort, indem er nach der
Volkssage als Führer der wilden Jagd oder des wütenden Heeres, der
Wolken und Winde, in denen die Seelen der gefallenen Helden bei ihm
fortdauern, in der alten heiligen Zeit aus Bergesklüften hervorbricht. Als
Naturgeist ist Wuotan der belebende Frühlingsgott, der die Winter-
riefen bezwingt und den Weltbaum wieder grünen macht. Als Gott des
Wunsches, der „im Wunsche vorandringenden, das Glück erjagenden
Seelenkrast", erscheint er auf Erden im grauen Mantel und breitkrämpigen
Wünschelhut, erteilt den Schiffern Wunschwind, den Spielern Glück, dem
Landmanne fröhliches Gedeihen des Feldes, führt auch verirrte Helden
in seinem weiten Sturmmantel plötzlich aus weiter Ferne zurück zu der
hoffnungslosen Gattin, die zu neuer Heirat sich anschickt. In der dichterisch
weiter gebildeten nordischen Mythologie wird Odin zum Allvater, zum
Köniae der Götter, zum Schöpfer und Regierer der Welt. Mit Wille
und Weihe, die seine Brüder Vili und Ve heißen, überschaut er vou
seinem weitschauenden Hochsitze in seiner weitstrahlenden Himmelsburg
Walhalla mit seinem einen großen Sonnenauge das All; zwei Raben.
Hugin und Munin, Gedanke und Erinnerung, bringen ihm Kunde aller
Dinge, seinen Anteil am Heldenmahle wirft er. rohe Kost verschmähend,
zweien Wölfen zu. Der Kampf ist sein Spiel, das Schwert sein Wunden-
jeuer. — Zu Ende der Erntezeit brannten ihm Opferfeuer auf den ihm
geheiligten Bergen, die noch als Martinsfeuer dauern, denn der heilige
Martin trat, sowie der Erzengel Michael, in christlicher Zeit an Wodans
Stelle: sein heiliger Wochentag war der Mittwoch (niederländisch Woens-
daa, angel ächsisch Bsdnesdag, englisch Wednesday, altnordisch Odhmsdag^)
Donar (nordisch Thor) ist Wuotans, seines Baters, rechte Hand,
der unverdrossene Beschützer der Erde, seiner Mutter, und derer, die stc