1. Kapitel: Vorbereitung der Reformation. 23
Julius II. in Rom den Mittelpunkt, wo die Künste, Baukunst,
Plastik und Malerei, in seltenem Vereine und harmonischem
Zusammenwirken Werke höchster Bedeutung und unvergänglicher Schön-
heit hervorbringen. Ueberall wird nach vollendeter Natur Wahrheit,
nach Lebendigkeit des Ausdrucks, nach vollendeter Schönheit gestrebt.
Eine durchaus selbständige EntWickelung nimmt in Italien die Malerei
seit dem 15. Jahrhundert, und sie erzielt gründliches Studium der
Form, vollendete Durchbildung des Kolorits und der Perspektive, eine
naturwahre Darstellung der Wirklichkeit. Italien feiert seine höchste
Kunstblüte durch die schöpferische Kraft eines Michel Angelo,
Rafael, Leonardo de Vinci, Cor regio, Tizian. (§ 60.)
In Italien erhält der Humanismus — wie schon der Hof
Leo X. zeigte — die dunkle Schattenseite, „daß viele von der
Kirchenlehre entfesselte Geister sich nun in einem keckenHeident um
des sinnlichen Genießens wohlbehagten und die Geistesfreiheit felbst
in der Verleugnung des Sitteugefetzes bewähren wollten." In
Deutschland herrschte dagegen im ganzen bei der religiösen Grund-
richtung des Volkes ein ernsteres religiöses Bewußtsein auch unter den
Humanisten; das klassische Studium wurde daher hier mehr
als Mittel zum Zweck der Erforschung der Wahrheit,
besonders der genaueren Erkenntnis der heiligen Schrift verwertet.
Fortsetzung: Erasmus von Rotterdam, Johann Reuchlin.
§ 9. Der bedeutendste humanistische Gelehrte seiner Zeit war
Desiderius Erasmus von Rotterdam. Nachdem er sich von
den Banden der Scholastik und dem Druck des Klosterlebens, in denen
seine Jugend gefangen gehalten worden war, losgerissen hatte, wagte
er es, als Literat von seiner Kunst in feiner, geistvoller, eleganter
lateinischer Darstellung zu leben. Die ganze Bitterkeit gegen die
Formen der Frömmigkeit und Theologie seiner Zeit, mit welcher er
durch die Erlebnisse seiner Jugend erfüllt worden war, ergoß
sich mit beißender und unerschöpflicher Laune in seine gelehrten und
populären Werke. In seinem „Lob der Narrheit" (1508) läßt
er diese als Herrscherin über ein gewaltiges Reich, zu dem alle Stände
gehören, das Verderben in der Kirche verspotten: „das
Labyrinth der Dialektik, in dem die Theologen sich gefangen haben, die
Syllogismen, mit denen sie die Kirche zu stützen vermeinen, wie Atlas
den Himmel, den Verdammungseifer, mit dem sie jede abweichende
Meinung verfolgen, — dann kommt sie auf die Unwissenheit, den
Schmutz, die seltsamen und lächerlichen Bestrebungen der Mönche, ihre
rohen und zänkischen Predigten; auch die Bischöfe greift sie hierauf an,
die sich jetzt mehr nach Gold umsehen, als nach den Seelen, die schon
genug zu thun glauben, wenn sie in theatralischem Aufzuge als die
verehrungswürdigsten, heiligsten, seligsten Väter segnen oder fluchen;
kühnlich tastet sie endlich auch den römischen Hof und den Papst felber
an, er nehme für sich nur das Vergnügen, und für fein Amt laffe er