HI. Die inneren Zustände des Reiches im 1. und 2. Jh.
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2. Die politischen Verhältnisse. § 118.
Während in der Zeit der Republik nur die Bewohner des
Gebiets von Rom und seit dem Jahre 90 v. Chr. nur die Bewohner
Italiens volles Bürgerrecht besessen hatten (§ 93 b), begann sich
in der Kaiserzeit der Gegensatz zwichen Italien und den Pro¬
vinzen auszugleichen, kam der Reichsgedanke stärker zur Geltung.
Vollendet wurde diese Entwickelung durch ein Gesetz des Kaisers
^ Caracalla aus dem Anfänge des 3. Jh., wonach alle freien Be¬
wohner der Provinzen Vollbürgerrecht erhielten.
Hatte die Verfassung des Kaisertums ursprünglich auf der
Teilung der Gewalt zwischen Princeps und Senat beruht (§ 107),
so war sie allmählich tatsächlich monarchischer, absoluter geworden.
Der größte Mangel der Verfassung bestand darin, daß eine feste
Erbfolgeordnung fehlte und der jedesmalige Kaiser seinen
Nachfolger bestimmte. Das hat dann zu den verwüstenden
Imperatorenkämpfen des 3. Jh. geführt.
3. Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. § 119.
a) Die materielle Kultur stand außerordentlich hoch. Der
dauernde Weltfriede (von den Grenzkriegen abgesehen) kam dem
Handel und Gewerbe, der Landwirtschaft und jeder Art nutz¬
bringender Tätigkeit sehr zu statten. Die besonders im Polande
hochentwickelte Landwirtschaft, die im Ackerbau, Weinbau
und in der Obstkultur erstaunliche Erträge lieferte, die Entfaltung
des Gewerbes, die Einrichtung von Kranken-, Sterbe- und
Unterstützungskassen, der Geldverkehr, dessen Ausdehnung
durch die Tatsache gekennzeichnet wird, daß seit Augustus der
Zinsfuß 4—6 betrug, das alles bezeugt die Höhe der wirt¬
schaftlichen Entwickelung:.
O
b) Auf der ändern Seite fuhren die Latifundien Wirtschaft
mit dem Sklaventum und der Kapitalismus fort ihre zer¬
störenden Wirkungen auf wirtschaftlichem und sittlichem Gebiete
zu üben. In den oberen Gesellschaftskreisen, in Rom und den
Weltstädten des Ostens auch in den niederen, war die sittliche
Verdorbenheit groß; in den Provinzen aber war das sittliche
Brettschneider, Geschichtl. Hilfsbuch. I. 9