Full text: Deutsche Geschichte (Teil 2)

406 112. Der Deutsch-französische Krieg. 1870—1871. 
2. Die Erhebung Deutschlands. Dieser Friedensbruch Napoleons 
erfüllte ganz Deutschland mit Entrüstung; der Versuch, das greise 
Oberhaupt des Norddeutschen Bundes zu demütigen, ward als Angriff 
auf die deutsche Ehre empfunden. In Nord und Süd fühlte 
Deutschland sich eins. Das dreißig Jahre früher von Max Schnecken- 
burger gedichtete, von Karl Wilhelm in Musik gesetzte Lied: 
„Die Wacht am Rhein" wurde jetzt mit Blitzesschnelle zum nationalen, 
mit Begeisterung gesungenen Trutzliede. Die Rückreise König Wilhelms 
am 15. Juli von Ems (über Kassel, Göttingen, Magdeburg) nach 
Berlin glich einem Triumphzuge. Ueberall begrüßten ihn dichte 
Menschenmassen mit jubelndem Zuruf. In Brandenburg empfingen 
der Kronprinz, Bismarck, Moltke und Roon den König und stiegen zu 
ihm in den Wagen, um ihn bis Berlin zu begleiten. Noch in der- 
selben Nacht ordnete er die Mobilmachung der gesamten Armee des 
Norddeutschen Bundes an. Der Kronprinz trat an das Fenster 
und sprach zu der versammelten, harrenden Menge: „Der Krieg ist 
erklärt, es wird mobil gemacht!" Ein brausendes Hurra folgte diesen 
Worten. Am Tage der Kriegserklärung trat der Norddeutsche 
Reichstag zusammen. „Hat Deutschland", so hieß es in der vom 
König verlesenen Thronrede, „Vergewaltigungen seines Rechts und 
seiner Ehre in früheren Jahrhunderten schweigend ertragen, so ertrug 
es sie nur, weil es in seiner Zerrissenheit nicht wußte, wie stark es 
war" Wir werden", so schloß er, „nach dem Beispiel unserer 
Väter für unsere Freiheit und für unser Recht gegen Die Gewalttat 
fremder Eroberer kämpfen, und in diesem Kampfe wird Gott mit uns 
sein, wie er mit unfern Vätern war". Begeistert stimmte der Reichstag 
der Regierung zu, und die zum Kriege erforderlichen Geldmittel wurden 
sofort bewilligt. — Am 19. Juli, dem Todestag feiner Mutter, der 
unvergeßlichen Königin Luise, die so schwer unter dem französischen 
Uebermute gelitten hatte, besuchte König Wilhelm deren Gruft in 
Charlottenburg und erneuerte für die Dauer dieses Krieges den einst 
an ihrem Geburtstage gestifteten Orden des Eisernen Kreuzes. 
Auch die süddeutschen Staaten, voran der junge Bayernkönig 
Ludwig II., stellten sofort ihre Truppen unter Waffen und unter den 
Befehl des Königs von Preußen. „Alldeutschland in Frankreich hinein!" 
so hieß die Losung jener Tage. Der große, lang ersehnte Augenblick 
war gekommen, da der Dichter sagen konnte: „Vergessen ist der alte 
Span, das deutsche Volk ist eins!" 
Ein Sturm der Begeisterung ging durchs deutsche Land. Was Preußen im 
Jahre 1813 bewegte, erfaßte jetzt Deutschland. Wieder leerten sich Schulbänke und 
Lehrstühle (in Göltingen meldeten sich 400 Studenten zum freiwilligen Eintritt ins 
Heer); verlassen standen Pflugschar und Kaufladen; vom Herrensitze und aus 
niederer Hütte eilte alles zu den Fahnen, um in demselben Heere für dasselbe Ziel 
zu kämpfen. Auf allen Plätzen und Straßen hörte man Waffengetümmel und 
kriegerische Klänge, und in stiller Kammer hoben sich gefaltete Hände zum Gebete. 
Ein allgemeiner Bettag sammelte Volk und Heer in den Gotteshäusern, um die 
Hilfe des Höchsten zu erflehen. Mit Gottvertrauen und Kampfesmut scharten sich 
die Krieger um ihre Fahnen. Die feurigen Dampfrosse führten Tag und Nacht 
Tausende gen Westen. Aus den Wagen erscholl es: „Lieb Vaterland, magst ruhig 
sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein". Auf allen Bahnhöfen wurden die
	        
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