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Die Neue Zeit.
stunden ihm uud den Seinen manche Freude bereitet. — Er war zwanzig Jahre
alt geworden, da sah er in der Universitätsbibliothek zum erstenmal eine vollständige
(lateinische) Bibel. Als er sie ausschlug, fiel sein Blick zufällig auf die Geschichte
vou Hanna und Samuel, die er zuvor nie gelesen noch gehört hatte. Er blätterte hin
und her und fand zu seinem Erstaunen eine Fülle herrlicher Geschichten und Lehren,
die ihm bis dahin ganz unbekannt gewesen waren. Da betete er, Gott möge ihm
die Gnade erweisen, daß er ein solches Buch dermaleinst sein eigen nennen könne.
Die philosophischen Studien waren rühmlich beendet, der Student war
Magister geworden, das Corpus juris war gekauft, und nun sollte das Rechts-
studinm beginnen. Aber immer quälender erhob sich die Frage, die ihn schon
seit Jahren beunruhigt hatte: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott, wie werde
ich selig?" Äußere Erlebnisse steigerten seine Seelennot. Einmal verletzte er sich
mit dem Degen und wäre fast verblutet; mit genauer Not entrann er dem Tode.
Bald darauf wurde einer seiner Freunde jählings erstochen. Nun fragte er sich:
„Wenn du plötzlich vor Gottes Richterstuhl gefordert worden wärest, wie hättest
du bestehen können?" Er hatte bisher Gott und Christus nur als harte, finstere
Richter kennen gelernt, nicht als Tröster der Mühseligen und Beladenen, und
darum mochte er seine Augen nicht zu ihnen erheben. — Als er im Sommer
1505.1505 von einer Fußwanderung in die Heiniat nach Erfurt zurückkehrte, fiel
für sein ganzes Leben die Entscheidung. Ein heftiges Gewitter entlud sich über
seinem Haupte; in nächster Nähe fuhr eiu Blitz hernieder, seiner selbst nicht
mächtig, stürzte er zu Boden nnd rief: „Hilf, liebe St. Anna, ich will ein
Mönch werden!" Nach Gerechtigkeit dürstete seine Seele, und da man nach
damaliger Anschauung innerhalb der Klostermauern einen höheren Grad von
Heiligkeit erlangen konnte als außerhalb, so erschien ihm das Mönchwerden als
der sicherste Weg, einen gnädigen Gott zu erlangen. Nach ein paar Tagen lud
er seine Freunde noch einmal zu sich, versuchte mit ihnen nach alter Weise fröhlich
zu sein, erhob sich dann und sprach: „Ihr seht mich heut' und nimmermehr!"
Ihre Bitten hielten ihn nicht ab, sich am nächsten Tage als Novize ins Au-
gustinerkloster zu Erfurt aufnehmen zu lassen. Sein Vater, dem er so die
liebsten Hoffnungen zerstörte, war aufgebracht über den eigenmächtigen Schritt
seines Sohnes; doch dieser blieb fest. Mit dem Bettelsack durchschritt er, Gaben
fürs Kloster erflehend, die Straßen Erfurts, und im Kloster unterzog er sich
willig den niedrigsten Diensten. Nachdem er ein Jahr lang alle Klosterregeln
bis ins kleinste befolgt hatte, wurde er Mönch. Die Theologie hatte er sich
als Studium erwählt, und nun las er vor allen Dingen fleißig die Bibel.
Nach einigen Jahren wurde er zum Priester geweiht. Als er nun vor den
Altar trat, um zum erstenmal das Meßopfer zu vollziehen, befiel ihn eine töd-
liehe Angst. „Wie kannst du Unwürdiger es wagen, mit Gottes heiliger Ma-
jestät zu reden!" dachte er bei sich selbst und wäre am liebsten davongelaufen.
Den Frieden mit Gott hatte er nämlich nicht gefunden, obgleich er sich die Jahre
hindurch mit Fasten, Beten, Nachtwachen, Geißeln so zerarbeitet hatte, daß sein
Körper nur noch aus Haut und Knochen bestand. „Ist je ein Mönch gen
Himmel gekommen durch Möncherei, so wollt' ich auch hineingekommen sein,"
konnte er später mit Wahrheit von sich sagen. Und doch rang er vergebens. Jedes
noch so geringe Vergehen gegen die Klosterregeln (bie oft von ganz nichtigen
Dingen handelten) rechnete er sich als Todsünde an. ,.O meine Sünden, meine