fullscreen: Quellenlesebuch (H. 5)

44 8. Die Germanen im Lichte der ältesten, unmittelbar geschichtlichen Überlieferung. 
In frühester Zeit aber überwog weitaus die westliche Bezugsquelle; schon im 
Steinzeitalter stand in ihrem Umkreis die Bearbeitung des kostbaren Harzes auf einer 
höhern Stufe als im Osten; und nach Süden, an das Mittelmeer, scheint fünf bis 
sechs Jahrhunderte vor Beginn unsrer Zeitrechnung ausschließlich oder hauptsächlich 
friesischer Bernstein gelangt zu sein. Er kam, wenigstens seitdem Marseille die Einfuhr 
gewonnen, wohl nur über Land im Austausch von Volk zu Volk, und so verknüpfte 
sich mit seinem Handel zunächst keine wesentliche Erweiterung der geographischen und 
ethnographischen Kenntnisse der Mten. 
Da faßte um 330 v. Chr. Pytheas, Bürger von Marseille, die Absicht, selbst ins 
Land des Bernsteins und des Zinnes zu fahren. Es war in der Zeit höchster Handels- 
blüte seiner Vaterstadt; gleichmäßig bewegten ihn kaufmännische und wissenschaftliche 
Interessen; das Problem, das neben dem Wagemute des Händlers die Welt hat ent¬ 
decken helfen, die Frage nach Größe und Gestalt der Erde, brannte auch ihm auf 
der Seele. 
Pytheas fuhr durch die Säulen des Herakles, besuchte und umschiffte die Küsten 
Britanniens, drang bis zur äußersten Thüles und kam von Britannien, ostwärts 
wendend, jenseits des Keltenlandes zu einem Erdstrich, Bannonia genannt, an dem 
großen Meerbusen Metuouis. Dort wohnten angeblich die Teutonen. Vor ihrer 
Küste liegt nach Pytheas außer andern Eilanden auf die Entfernung einer Tages¬ 
fahrt die Insel Abalos, auf deren Strand die Meeresfluten im Frühling den Bem- 
stein in großer Menge werfen. Die Bewohner der Insel sammeln ihn und haben so 
reichlich davon, daß sie mit ihm statt Holzes feuern. Sie bringen ihn auch nach dem 
benachbarten Festlande und verkaufen ihn an die Teutonen; diese verhandeln ihn 
durchs Keltenland an die Rhonemündung und zu den Hellenen. 
Eine einfache und klare Schilderung: das Gestade der Nordsee, die Bucht der Weser 
und Elbe, das deutsche Volk waren entdeckt. Es war eine Erweiterung der klassischen 
Kennwisse, die sich mit der erstmaligen richtigen Kenntnis der Erscheinungen von 
Ebbe und Flut verknüpfte; fie ward der Kultur des Mittelmeeres etwa gleichzeitig 
mit den fruchtbaren geographischen Ergebnissen der Züge Alexanders des Großen 
vermittelt. Freilich war damals das Antlitz der alten Kulturwelt noch gen Osten 
gewandt: in die Richtung der Länder, von denen sie Anregung und Ursprung genom- 
men; erst in den Jahrhunderten des Ablebens, als diese Kultur nicht so sehr fördernd 
als weitergebend und vermittelnd wirkte, wandte sie ihre Interessen dem Westen zu. 
Wir aber vermögen mit den Werkzeugen sprachlicher wie vorgeschichtlicher For- 
schnng die Nachrichten zu ergänzen, die Pytheas seinen Landsleuten über die Deutschen 
heimbrachte. Zu jener Zeit, als er die Germanen um Weser und Elbe vorfand, trugen 
auch deren Nebenflüsse, Eder und Fulda, Havel und Saale schon germanische Namen; 
die Oder floß als deutscher Strom dahin, und in Weichsel und Pregel spiegelten sich 
wohl germanische Wassert. Südlich des Bezirkes dieser Flußgebiete wohnten wenig- 
stens nach Westert hin keltische Völker; das obere Donaugebiet, das ganze Flußnetz 
des Oberrheins und Mains, am Niederrhein alles Land bis zur Wasserscheide mit 
dem Wesergebiete war in keltischen Händen. Ja vielleicht saßen damals die Kelten 
noch weiterhin nach Osten bis ins westliche Land der Werra und Fulda, bis in die 
Gegend von Göttingen und Hildesheim; denn auch hier finden sich noch heute ihrem 
Wesen nach keltische Namen, besonders Bezeichnungen rinnender Wasser, doch er¬ 
scheinen sie schon außerordentlich früh in germanische Form gegossen. 
1 Wahrscheinlich die Shetlands-Jnseln.
	        
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