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Licht- und Schattenseiten im Charakter der Germanen. 
heilig in Treue gehalten, daß das Volk der Gepiden lieber den Krieg gegen 
die Übermacht Justinians, d. h. den fast sicheren Untergang wählt als die Aus- 
lieferung eines in Gastschutz aufgenommenen Flüchtlings x). 
Durchaus nicht unvereinbar mit solcher Auffassung der Treue als einer 
nationalen Tugend ist es, wenn anderseits die ganze Arglist der Barbaren 
gegen den Nationalfeind, den Römer, sich kehrt. Die Verlockung und Vernich- 
tung des Varus durch Armin ist ein Meisterstück dämonischer Tücke; wir wollen 
es nicht rechtfertigen, nur erklären als das letzte Rettungsmittel eines um- 
garniert Volkes und als furchtbare Wiedervergeltung. 
Auch später wird oft genug über den Treubruch der Germanen geklagt 
— gewiß nicht immer ohne Grund und gewiß nicht, weil die unschuldigen 
Germanen von den bösen Römern erst Lug und Trug gelernt hätten. Nur ist 
daran zu erinnern, daß die Verträge, welche die Germanen oft genug brachen, 
ihnen durch die Waffen aufgezwungen waren und daß sehr oft nicht Mutwille, 
sondern die bittere Not, Hunger, Mangel, der Druck anderer Völker dazu zwang 
Frieden und Vertrag wieder zu brechen. Endlich wissen wir, daß sehr oft das 
Kaiserreich durch die Imperatoren selbst, noch viel öfter ohne deren Wissen durch 
seine Beamten und Lieferanten vorher die Verträge gebrochen, d. h. gar nicht 
oder mangelhaft erfüllt hatte, auf denen Verpflegung und Leben der heimatlos 
gewordenen Barbaren beruhte. 
Durch den verzweiflungsvollen Kampf ums Dasein mit der überlegenen 
römischen Macht mußte übrigens die barbarische Neigung zur List unablässig 
gefördert werden; und wenigstens zum Teil hierauf ist es zurückzuführen, wenn 
zumal die Franken eine erschreckende Treulosigkeit an den Tag legen — ihr 
Leumund war unter allen Germanen der schlimmste. 
Durchaus nicht unvereinbar mit den hohen und edlen religiösen, auch mit 
manchen entsprechenden sittlichen Anschauungen sind ferner bei einem Volke 
rauher Sitten einzelne Züge der Roheit, ja Grausamkeit und Wildheit. 
Der Vater hatte die Entscheidung das auf dem Schild vor seine Füße nieder- 
gelegte neugeborene Kind aufzunehmen oder liegen zu lassen. Das nicht auf- 
genommene Kind war dem Tode, wohl durch Aussetzung, preisgegeben; doch 
durfte dies nicht mehr geschehen, wenn irgend eine Speise bereits ferne Lippen 
genetzt hatte. 
ij Hierüber berichtet F. Dahn a. a. O.: „Hildichis, der Sohn eines langobardischen 
Königs, hatte vor den Nachstellungen des Kaisers Justinian bei den Gepiden Zuflucht 
gefunden. Der Kaiser aber forderte die Auslieferung des Flüchtlings. Da beriet sich 
der Gepidenkönig mit den Edlen seines Volkes und befragte sie, ob er dem Ansinnen 
Justinians nachgeben solle. Diese aber sprachen: „Besser ist es, daß das ganze Volk 
der Gepiden mit Weib und Kind spurlos untergehe, als daß es sich mit solchem Frevel 
beflecke".
	        
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