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Cajus Gracchus.
Platze zusammenstanden, beschloß er sich jeder Gefahr auszusetzen und rief mit
Edelmut dem Tiberius zu, er möge immerhin tun, was ihm beliebe.
Auf solche Weise erhielt der Vorschlag seine völlige Bestätigung und nun
befahl Tiberius einem seiner Freigelassenen — denn die- Tribunen brauchten
ihre eigenen Freigelassenen als Gerichtsdiener — den Octavius mit Gewalt
von der Rednerbühne wegzuführen. Dies gab denn einen noch rührenderen
Anblick, wie Octavius auf eine so schimpfliche Art fortgeschleppt wurde. Das
Volk wollte sogleich über ihn herfallen, aber die Reichen liefen zusammen und
breiteten ihre Hände über ihn aus, so daß er noch mit genauer Not der Wut
des Pöbels entrissen wurde und sein Leben rettete.
Jetzt wurde auch das Ackergesetz bestätigt und dankbar geleitete das Volk
den Tiberius in feierlichem Aufzug in seine Wohnung und pries ihn als seinen
Schützer und Wohltäter.
34. Cajus Gracchus.
Karl Neumann, Geschichte Roms während des Verfalles der Republik.
Herausgegeben von E. Gothein.
(Breslau, M. und H. Marcus.)
Wie ausgezeichnet auch die Begabung des Tiberius Gracchus gewesen war,
sein Bruder Cajus war ihm in vielen Beziehungen, namentlich an Beredsam-
keit überlegen. Tiberius war eine stille und ernste Natur, Cajus eine feurige
und leidenschaftliche; jener suchte durch kluge und geschickte Gruppierung
rein sachlicher Gründe zu überzeugen und sprach mit einer inneren Wärme,
die zur Teilnahme stimmte; Cajus dagegen imponierte durch die Kraft seiner
Gedanken und durch die Glut seiner Leidenschaft, und indem er jede Tonart
menschlicher Empfindungen mit Meisterschaft anzuschlagen verstand, riß er die
Menge fort in den Taumel der Begeisterung. Tiberius war von milder Ge-
sinnung und, so weit es mit der Sache nur irgend verträglich war, geneigt
Rücksicht zu nehmen; Cajus aber wußte, daß er im politischen Kampfe die
Gegner nicht mit Sammethandschuhen anzufassen hatte. Tiberius wollte vor
allem der armen Bürgerschaft helfen und dadurch den Staat wieder zu Kräften
bringen; Cajus strebte nach demselben Ziel, doch täuschte er sich nicht darüber,
daß er um es zu erreichen die Gegner vernichten müsse, und als er sich ent-
schlössen hatte das Werk in die Hand zu nehmen, erfolgte planvoll Angriff
auf Angriff und jeder einzelne zerbrach den Feinden eine Stütze ihrer Macht.
Seine Rednergabe war so außerordentlich, daß Cicero ihn unbedenklich
für den größten Redner erklärte, den Rom hervorgebracht habe. Plutarch be-
zeichnete seine Rede als packend und erschütternd bis zum Schrecklichen, hin-
reißend und glänzend und, wenn ihn selbst die Glut der Leidenschaft fortriß,