Cajus Gracchus.
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von einer unwiderstehlichen Kraft. Als Cajus zum erstenmal zugunsten eines
angeklagten Freundes (Vettius) sprach, geriet das Volk in einen Taumel des
Entzückens. Eine solche Rede hatte man noch nie gehört; alle andern gefeierten
Redner, meinte man, wären Kinder im Vergleich mit diesem jungen Manne.
Was ihm außer seiner gewaltigen Natur noch besonders zu statten kam, war
ein ungewöhnlich klangvolles, jeder Modulation fähiges Organ. Er konnte in
der Deklamation immer mit Sicherheit den wirkungsvollsten Ton anschlagen und
die Art seines Vortrages trug wesentlich dazu bei den zündenden Eindruck der
Gedanken und Empfindungen, die er ausdrückte, zu verstärken, zumal da er den
Vortrag durch eindrucksvolle Gesten zu unterstützen verstand. Er hielt die
Arme nicht, wie es bisher bei den Rednern üblich war, unter der Toga sorgsam
verhüllt, sondern er ließ, wenn er in Feuer geriet, die Toga von der Schulter
sinken, gestikulierte mit dem Arm, blieb auf der Rednerbühne auch nicht unbeweg-
lich an einem Platze stehen, sondern trat vor und zurück und bezeugte dadurch
auch äußerlich die Unruhe, die in seinem Innern wühlte und die sich unwider-
stehlich der an ein solches Auftreten nicht gewöhnten Versammlung mitteilte.
Und zu allen diesen außerordentlichen Mitteln, durch die er die Menge
zu ergreifen wußte, trat hinzu die tiefe Anteilnahme, die schon sein bloßes
Auftreten bei allen denen erweckte, die sich an sein Schicksal erinnerten, und
wer dachte nicht an den erschlagenen Bruder, wenn er Cajus Gracchus erblickte!
Er hatte an dem älteren Bruder mit schwärmerischer Verehrung gehangen;
er pries seine Mutter, daß sie einen solchen Sohn geboren; immer und immer
wieder kam er in seinen Reden auf Tiberius zurück und dann gewannen seine
Worte einen wahrhaft hinreißenden und herzerschütternden Zauber. Cicero
teilt ein solches Bruchstück aus einer Rede des Gracchus mit: „Wohin soll ich
Unglücklicher mich wenden? Wohin mich flüchten? Aufs Kapitol? Es trieft
vom Blute des Bruders. Oder nach Hause? Soll ich meine Mutter sehen
unglücklich, jammernd, verstoßen?" — und er fügt hinzu, diese wehmütigen
Worte seien durch Blick, Ton und Gestikulation so unterstützt worden, daß auch
die Feinde sich der Tränen nicht hätten enthalten können.
Uns sind von den Reden des Gracchus nur einzelne abgerissene Sätze
erhalten; aber auch diese Bruchstücke lassen uns ahnen, mit welcher unwider-
stehlichen Gewalt dieser Mann die Gemüter beherrscht haben muß.
Trotz einer so ausgezeichneten Befähigung drängte er sich nicht zur poli-
tischen Laufbahn. Er scheint zuerst mehrmals in Privatprozessen gesprochen zu
haben — genug um dem Volke zu zeigen, was es von ihm zu hoffen, und
dem Senat, was er von ihm zu befürchten habe. Von seinem 17. Lebensjahre
an war er nur selten auf längere Zeit in Rom anwesend. Er machte zahl-
reiche Feldzüge mit und war mit ganzer Seele Soldat — nach dem Forum
sehnte er sich nicht.
Förderreuther-Würth, Aus d. Gesch. d. Völker. 24