— 99 —
hinterlassen. Da die Familien gewöhnlich sehr kinderreich waren, so bestand
bei den Patriziern der Brauch, einen Sohn für den geistlichen Stand zu
bestimmen und auch eine Tochter in ein Kloster einzukaufen.
Bleibende Denkmäler dieses frommen Sinnes sind die vielen schönen
Kirchen im gotischen Stil, der den romanischen ablöste. Diegotischen
Bauten gehen in die Höhe. Man hat die Strebepfeiler anzuwenden
gelernt. Diese entlasten die Gewölbe? die Mauern brauchen nicht mehr so
dick zu sein wie die romanischen und dürfen darum auch durch große Fenster
unterbrochen werden.
In allen schädlichen Naturereignissen sahen die Menschen damals
eine direkte Strafe des Himmels für ihre Sunden, die darum eine
Buße erforderte. Wenn ein großes Sterben viele Leute hinraffte, wenn
eine außergewöhnliche Überschwemmung großen Schaden tat, wenn eine Wind¬
hose oder ein Hagelschlag die ganze Ernte vernichtete, wenn die Dürre im
Sommer zu lange anhielt, so mußte eine Vitt- und Bußprozession
Hilfe schaffen.
6. Die Bildung. Fast jedermann konnte wenigstens lesen und schreiben;
das brachte schon das Geschäft mit sich. Doch tat die Obrigkeit gar nichts
für die Schulbildung; diese war vielmehr Privatsache. Vor allen Dingen
pflegte sie die Geistlichkeit in ihren Schulen. Es gab aber auch Privat-
lehr er, sogar schon Privatlehrerinnen für das weibliche Geschlecht.
Viele Bürgersöhne, vor allem ans den Patrizierkreisen, begnügten sich
nicht mit dem, was sie daheim lernen konnten, sie wollten höher hinaus und
besuchten eine Universität. Da zogen denn die Wohlhabenden nach
Italien und studierten in Bologna oder Siena; die weniger Bemittelten
suchten deutsche Hochschulen auf, die damals in großer Zahl entstanden,
vor allem Heidelberg, Köln, Erfurt, Leipzig.
So wuchsen die Bürger den Adeligen über den Kopf; sie wurden die
Träger der deutschen Bildung. Freilich gelang es ihnen nicht, auf
dem Gebiete der Dichtkunst den Minnesängern gleichzukommen. Doch war
wenigstens einer von ihnen, der Nürnberger Hans Sachs, ein wirklicher
Dichter.
7. Die Wehrhaftigkeit. Die Bürger mußten auch zur Wehrhaftig-
feit erzogen werden; denn die Fürsten und die Ritter waren den Reichs-
städten feiud und suchten ihnen beständig zu schaden. Darum hatte jeder
Bürger für sich eine Rüstung zu stellen, deren wichtigstes Stück der Brust-
Harnisch war. Die Städter waren gar nicht angriffsluftig: sie wollten am
liebsten mit jedermann in Frieden leben. Deshalb übten sie sich auch nur
wenig für den Kampf in der Feldschlacht, und den Ritterheeren der Fürsten
zeigte sich ihr Fußvolk säst nie gewachsen. Desto mehr pflegten sie die
Waffen der Verteidigung, die Armbrust und später auch die Büchse.
Der Rat hielt daraus, daß die erwachsenen Bürger im Armbrust-
schießen tüchtig waren. Auf einer ganzen Reihe von Schießständen übten
sich im Sommer auf seinen Befehl die Schützen an jedem Sonntagnach-
mittag. Sie schössen nicht einzeln, wie dies heute beim Scheibenschießen
Sitte ist, sondern gruppenweise. Die Mitglieder jeder Abteilung saßen in
7*