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III. Länder- und Völkerkunde. A. Europa.
fassen vermag, für welche der seichte Eingang allein zugänglich ist, war
zn der Zeit, als wir ihn sahen, ungefähr halb gefüllt. Sein Anblick
ist, eben wegen der geringen Größe der einlaufenden Schiffe, zwar nicht
mit jenem von Genua und Livorno zu vergleichen, dafür aber wieder
in anderer Art, durch das bunte, mannichfachc Handclsleben, das sich
hier eng zusammendrängt, anziehender.
Ehe wir noch die Reise antraten, hatte ein lieber Freund im Va¬
terlande, der früher in Marseille war, uns öfters gewünscht, daß uns
uur der Mistral nicht dort treffen möge, welcher unfern Aufenthalt gar
sehr erschweren könne. Aber schon in der ersten Nacht unseres Auf¬
enthaltes meldete sich, nach einem erquickenden Frühlingsregen, dieser
Hauptseind der Gegend, dessen Heftigkeit wir nirgends sonst in einem
solchen Grade empfunden haben, als hier. Wir hörten die ganze Nacht
hindurch sein lautes Brausen an den Häusergiebeln und Dächern hin,
und nach Aufgang der Sonne war er in seiner ganzen verheerenden
Stärke da. Der Cours, so wie die breiteren Straßen waren durch
die Wolken von Staub und kleinen Steiuchen, welche der Sturmwind
hindurchjagte, fast unzugänglich. Der Anblick des freien, außerhalb des
Hafens brandenden Meeres, dessen Wellen wie gejagte Rosse mit wei¬
ßem Schaume bedeckt waren, erschien heute freilich so überaus anziehend
und schön, daß wir ihn immer von Neuem, von verschiedenen Punkten
her, aussuchten. Den Marseillern selber war dieser Anblick nichts
Seltenes, der Mistral hat in ihrer Bucht einen Haupt-Ausgangspunkt
nach dem Meere zu und weht deshalb in jeder Jahreszeit, nach jedem
Regen. Ja, man weiß Fälle, wo er, schon im vorhergehenden Jahre
anfangend, in einem Zeiträume von vierhundert Tagen nur selten und
wenig geschwiegen, fast ununterbrochen geweht hat. Wer daher den
Anblick der Seestürme liebt, der wird sein Verlangen darnach in Mar¬
seille auch bei kurzem Aufenthalte leicht befriedigt sehen.
Nismes, das verhältnißmäßig so viel kleinere Nismes, hat die Spu¬
ren seiner alten Pracht und der Herrlichkeit des Römerreiches noch so
uuzerstört erhalten; und so manche kleinere und größere Stadt des
südlichen Frankreichs hat aus alter Zeit bedeutungsvolle Reste aufzu¬
weisen, nur Marseille, diese alte Freundin und mächtige Bundesgeuossin
von Rom, dieses zweite Athen, wie die Römer cs mit Recht nannten,
hat die Spuren seiner alten Herrlichkeit säst ganz verloren. Die ganze
Gegend scheint nichts mehr davon zu wissen, baß einst hier das alte
Massilia gestanden, in welchem schon sechshundert Jahre vor Christo,
zugleich mit dem Wohllaut der ionischen Zunge, griechische Sitte und
Bildung gelebt hat.
Da ist keine Spur mehr von den alten Tempeln, welche die Griechen
mit den Göttern zugleich der Stadt gebracht hatten, kein Gemäuer
verräth mehr das alte Amphitheater, oder die Stelle, wo sich um die
Sitze seiner sechshundert Senatoren das Volk versammelte; kaum ist
noch eine Spur vorhanden von den Mauern der alten Stadt, unter
denen Maximian an Konstantin zugleich mit der entscheidenden Schlacht