Das Herz Deutschlands.
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balles angehaucht, leuchten die Bergspitzen noch einmal wunderbar
bis in die fernsten Tiefen auf. Ein letzter aufblitzender Wetterschein,
und strahlenlos taucht die purpurlohende Feuerkugel in eine andere
Welt hinüber. Und nun sie verschwunden ist, nun wieder ein Tag aus
dem Buche der Ewigkeit gestrichen, da geht es wie verhaltener Atemzug
rings durch die Natur. Der Wald, in dessen Taltiefen bereits der
Abend zwischen den Stämmen einherschreitet, scheint leise aufzuseufzen
in verhaltener Wehmut.
Auf leichten Schwingen weht der Abendwind heran. Er streicht
über den Boden dahin und rührt die Gräser und das falbe Blumen—
volk mit leisem Zittern an. Er geht durch die Wipfel hoch über mir,
und sie beugen sich sacht, dem scheidenden Tage zu. Ein heimlich
Rauschen setzt ein, sanft anschwellend, als glitten unsichtbare Hände
über ein mächtiges Orgelspiel und es fülle die Luft sich nun mit
geheimnisvollen, vom Himmel geschickten Tönen.
In das tiefsatte Dunkelgrün der Fichten mischt sich das bunt—
gesprenkelte Laub silberstämmiger Buchen. Doch nun die Sonne nicht
mehr im Gezweig das wundervolle Spiel von Farben und Lichtern
entzündet, blickt alles müde und leblos drein. In dunkelnder Tiefe
zur Seite gluckern halbverschlafene Quellen zwischen Moos und Ge—
stein talab; irgendwo tönt noch das verwehende Läuten einer spät
heimkehrenden Herde. A. Trinius, Im Banne der Heimat.
Ach, wie ist's möglich dann,
daß ich dich lassen kann,
wo meine Wiege stand,
Thüringerland!
Duften die Berge blau,
wenn ich waldaufwärts schau,
wird mir das Herz so weit,
voll Seligkeit. Thüringisches Vollslied.
AA
62. Das herz Deutschlands.
Wie Deutschland die Mitte Europas bildet, so sind Thüringen
und der westliche Teil des heutigen Königreichs Sachsen das Herz
Deutschlands. Oft wurde hier um das Wohl, ja um das Dasein
unseres Vaterlandes gestritten; infolgedessen sind wenige Stellen
Europas so mit Blut getränkt wie das Flußgebiet der Saale und
der Mulde.
Lebendig ist von jeher der Pulsschlag dieser Herzlandschaft ge—
Lorenz, Raydt, Rößger: Deutsches Lesebuch J. 15