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aus ihrer anmutvollen Hülle uns entgegenlacht: da weckt sie die zar¬
testen Regungen unseres Innern, da sacht sie die Glut unserer Em¬
pfindungen zu lichter Flamme an, und Ehrfurcht und Anbetung alles
dessen, was es Großes und Erhabenes, was es Würdiges und Heiliges
giebt, sind die Früchte, welche wir dem Umgänge mit ihr verdanken.
So hätten wir ihn denn entschleiert den geheimnisvollen Zauber,
den die Natur auf uns ausübt. Sie, die nichts anderes ist, als der
unmittelbare Ausfluß des göttlichen Wesens; sie, die überall durchweht
ist von dem Hauch seiner Liebe — wie könnte sie anders als erhebend
und verklärend auf uns einwirken! Sie weckt und fördert in uns
die Erkenntnis des höchsten Wesens; aus der Zweckmäßigkeit ihrer
Einrichtungen, aus dem gesetzlichen Walten in ihren Erscheinungen
erkennen wir seine Weisheit, aus ihrer Pracht und ihrer Schönheit
seine Güte, aus ihrer Fülle und ihrem Reichtum seine Liebe. Und
will uns bange werden bei der Leere unseres Herzens; werden wir
von Unmut und Zweifeln geplagt: so mögen wir getrost an ihrem
Quell uns laben; er sprudelt ewig klar und hell, erbesitzt die geheim¬
nisvolle Kraft, den Frieden in uns herzustellen, nach dem wir unab¬
lässig streben, in dem das wahre Glück des Lebens ruht.
Rudolph.
99. Der Wald in der Poesie.
den Lieblingen der deutschen Poesie hat von jeher der Wald
gehört. Von ihm ist gesungen worden fast so lange, als es eine Poesie
giebt. War doch selbst die Religion der alten Germanen vorzugsweise
ein Waldkultus und das Rauschen der Bäume das Wiegenlied ihrer
Kinder. In der Neuzeit haben vornehmlich die Romantiker den Wald
in ihren Liedern verherrlicht. Tieck fordert in seinem Gedichte „Wald¬
einsamkeit" alle von Sorgen Belasteten auf, sich in die Stille des Waldes
zu flüchten, um dort ihre Sorgen zu vergessen, denn in dem süßen
Waldesschatten wohne die Herzensfreudigkeit. Er singt:
„Kommt, ihr Beengten,
Herzbedrängten,
Entfliehet, entreißt euch der Qual!
Es beut die Natur,
Der freundliche Himmel
Den hohell, gewölbten Saal.
Entflieht dem Getümmel!
Auch Eichendorff hat dem Walde in dem Gedichte: „Der Jäger-
Abschied" ein schönes Lied gewidmet, in welchem er jede Strophe, mit
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