Erzählungen und Gedichte.
53
Als der Kranke so mit sich reden hörte, ließ er sich sogleich den andern
Morgen die Stiefel salben und machte sich aus den Weg, wie ihm der Dok¬
tor befohlen hatte. Den ersten Tag ging es so langsam, daß wohl eine
Schnecke hätte können sein Vorreiter sein; und wer ihn grüßte, dem dankte
er nicht, und wo ein Würmlein auf der Erde kroch, das zertrat er. Aber
schon am zweiten und am dritten Morgen kam es ihm vor, als wenn die
Vögel schon lange nicht mehr so lieblich gesungen hätten wie heut; und der
Tau schien ihm so frisch und die Kornrosen im Felde so rot, und alle Leute,
die ihm begegneten, sahen so freundlich aus, und er auch. Und alle Morgen,
wenn er aus der Herberge ausging, war's schöner, und er ging leichter und
munterer dahin. Und als er am achtzehnten Tage in der Stadt des Arztes
ankam und den andern Morgen aufstand, war es ihm so wohl, daß er
sagte: „Ich hätte zu keiner ungeschickteren Zeit können gesund werden als
jetzt, wo ich zum Doktor soll. Wenn's mir doch nur ein wenig in den
Ohren brauste oder mir das Herzwasser liefe!" Als er zum Doktor kam,
nahm ihn der bei der Hand und sagte zu ihm: „Jetzt erzählt mir denn
noch einmal von Grund aus, was Euch fehlt." Da sagte er: „Herr Dok¬
tor, mir fehlt gottlob nichts; und wenn Ihr so gesund seid wie ich, so soll's
mich freuen!" Der Doktor sagte: „Das hat Euch ein guter Geist geraten,
daß Ihr meinem Rat gefolgt seid. Der Lindwurm ist jetzt abgestanden.
Aber Ihr habt noch Eier im Leibe; deswegen müßt Ihr wieder zu Fuß
heimgehen und daheim fleißig Holz sägen, daß es niemand sieht, und nicht
mehr essen, als Euch der Hunger ermahnt, damit die Eier nicht ausschlüpfen;
so könnt Ihr ein alter Mann werden," und lächelte dazu. Aber der reiche
Fremdling sagte: Herr Doktor, Ihr seid ein feiner Kauz, und ich verstehe
Euch wohl!" und hat nachher den Rat befolgt und 87 Jahre 4 Monate
10 Tage gelebt, wie ein Fisch im Wasser so gesund, und hat alle Neujahr
dem Arzt 20 Dukaten zum Gruß geschickt. Hebel.
63. Belsazar.
1. Die Mitternacht zog näher schon;
in stummer Ruh' lag Babylon.
2. Nur oben in des Königs Schloß,
da flackert's, da lärmt des Königs Troß.
3. Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.
4. Die Knechte saßen in schimmernden Reih'n
und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
5. Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht';
so klang es dem störrigen Könige recht.