Full text: [Teil 1 = Kl. 8] (Teil 1 = Kl. 8)

Brunnen, an dem sonst um diese Zeit die Mädchen beim Wasser¬ 
holen plauderten und lachten, streckte seinen langen Balken neu¬ 
gierig in die Luft, als wollte er fragen: „Kommt denn heute niemand 
her, mein Wasser zu holen?“ Unter der großen Linde, wo an 
andern Abenden die jungen Bursche saßen und ihre Lieder sangen, 
regte sich heute kein Grashälmchen, und nur oben im Baume 
pfiff ein Vögelchen sein Abendlied. Selbst der alte Baumstamm, 
worauf die Kinder zu spielen und herumzuklettern pflegten, lag 
verlassen und leer da, und nur wenige Ameisen, die sich bei der 
Arbeit verspätet hatten, krochen darauf noch hin und her, um sich 
ihr Abendbrot zu holen. 
Allmählich kam die Dämmerung herauf; es wurde immer 
dunkler und stiller, und nachdem die lauten, lustigen Vögel in ihre 
Nester gekrochen waren, schlüpften die häßlichen Fledermäuse 
hervor und schwirrten und huschten durch die Abendluft. 
Da kam um die Ecke der Scheune ein Mann daher. Er 
schlich leise und ängstlich immer an der Mauer entlang, wo es am 
dunkelsten war. Dabei sah er sich scheu nach allen Seiten um, 
ob etwa ein Mensch da wäre, der ihn bemerken könnte. Als er 
sich aber ganz sicher glaubte, kletterte er auf die Mauer, kroch 
dort auf allen vieren wie eine Katze weiter bis an eine Stelle, wo 
die Mauer ans Haus stieß, und schwang sich dann in ein Fenster 
des Hauses hinein, das gerade offen stand. 
Der Mann aber hatte recht böse Dinge im Sinn; denn er war 
ein Dieb und gedachte die Leute, die in dem Hause wohnten, zu 
bestehlen. Nachdem er durch das Fenster hineingekrochen war, 
befand er sich in einer leeren Kammer; dicht daneben war die 
Wohnstube der Hausbewohner. Eine Tür, die dort hineinführte, 
war nicht verschlossen, sondern nur leicht angelehnt. Der Dieb 
wußte wohl, daß die Leute ebenfalls auf den Jahrmarkt gegangen 
waren; doch dachte er, es könnte vielleicht zufällig jemand in die 
Stube gekommen sein, legte daher das Ohr an die Türspalte 
und horchte. 
Drinnen hörte er ein Kind laut sprechen, und wie er durchs 
Schlüsselloch guckte, sah er beim Dämmerschein, daß es ganz 
allein mit gefalteten Händen in seinem Bettchen saß, — das Kind 
betete, wie es immer vor Schlafengehen tat, laut sein Vaterunser. 
Schon sann der Mann darüber nach, wie er dennoch seinen Dieb¬ 
stahl am besten ausführen möchte, da hörte er, wie das Kind mit
	        
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