12 Zweiter Abschnitt. Bilder aus der Völkerwanderung.
den Wuneln wilder Pflanzen und halbrohem FMch. Sie bewohnen kein
Haus, sondern vermeiden jedes Gebäude, als wäre es ein GrnlT Immer
schweifen sie durch Berg und Wald. Frost, Hunger, Durst lernen sie von
Jugend auf ertragen. Sie kleiden sich in leinene Gewänder oder Pelze aus
den Fellen der"ÄValdmäuse. Mit einer niederen Kappe decken sie das Haupt,
die Beine schützen sie mit Ziegenfellen. Tag und Nacht leben sie auf den
Pferden. Dort kcy^en und verkaufen sie, dort essen und trinken, dort schlafen
und träumen sie, indem sie sich vornüber auf den schmalen Hals des Rosses
beugen. Beim Zusammenstoß mit dem Feinde erheben sie ein furchtbares
Schlachtgeschrei. Von außerordentlicher Gewandtheit und Schnelligkeit, zerstreuen
sie sich plötzlich im Kampfe und jagen zurück, um sich zu einem neuen An¬
lauf zu sammeln und dann unter den Gegnern unerwartet ein furchtbares
Blutbad anzurichten. Niemand bestellt bei ihnen den Acker, niemand berührt
den Pflug. Ohne feste Wohnsitze, ohne Obdach, Gesetz und Sitte ziehen sie
umher gleich Flüchtlingen, ^hre Karren dienen ihnen zum Wohnsitz und ihren
Weibern und Kindern zum Aufenthalt. Was ehrbar und unehrbar ist, wiffen
sie so wenig wie die Tiere des Waldes. Voller Lüge und Tücke sind sie
und ohne alle Religion. Unersättliche Goldgier beherrscht sie allein, treulos
find sie und unbeständig. — (Nach dem Bericht des Römers Ammianns
Marcellinus).
c) Die nächsten Völkerbewegungen. welche durch sie veranlaßt werden.
Zuerst traf dieser wilde Völkerschwarm 375 n. Chr. aus die Alanen,
welche zwischen Don und Wolga wohnten. Sie wurden in einet Schlacht
besiegt, zum Bündnis gezwungen und warfen sich nun, mit den Hunnen ver¬
eint, auf die Goten. Dieses Volk hatte im Laus der Jahre bereits eine weite
Wanderung gemacht. Vor 300 Jahren hatten die Goten an dem Unterlauf
der Weichsel gewohnt. Von hier waren sie südlich gezogen und erreichten um
die Mitte des 3. Jahrh. n. Chr. das schwarze Meer. Südlich vom waldigen
Karpathengebirge und westlich vom Dnjepr hatten jetzt die Westgoten, östlich
von diesen die Ostgoten ihre Wohnsitze. Diese standen unter dem greisen
König Hermanrich. Er wollte den Untergang seines Volkes nicht überleben
und stürzte sich, als er sah, daß alles verloren sei, in sein Schwert. Die
Westgoten standen unter zwei Königen, von denen der eine, Fridigern, schon
Christ war und über Christen herrschte. Die heidnischen Westgoten unter¬
warfen sich den Hunnen, oder zogen sich in die Karpathen zurück, während
die christlichen Westgoten cm den Grenzen des Römerreiches erschienen und
den römischen Kaiser um Aufnahme in sein Reich baten. Der Kaiser gab ihnen
auch die Erlaubnis, sich im Donaulande anzusiedeln.
Im Frühjahr des Jahres 376 führte man das Volk in Schiffen. Kähnen
und Flößen über den hochangeschwollenen Donanstrom. Ohne Aufhören, Tag
und Nacht ging der unendlich lange Zug über den Fluß.
„So wurde in rastlosen: Eifer das Verderben für den römischen Staat
herübergeholt!" — So ruft ein römischer Schriftsteller ans, der uns von
diesem Gotenzuge berichtet. Und wahrlich, große Bedrängnis hat das römische
Reich von diesen Gästen erdulden müssen: freilich waren die Römer selbst
schuld daran.