Full text: Charakterbilder aus der Geschichte der alten und beginnenden neuen Zeit (Bd. 1)

Prophetenschulen, Tätigkeit der Propheten. 
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bei den Ägyptern ebensowohl als bei den Juden vorausgesetzt werden muß. Seit dem 
Auszuge aus Ägypten hörte der Herr nicht auf, Propheten zu schicken, so daß in der ganzen 
alttestameutlicheu Geschichte das Auftreten von Propheten zur gewöhnlichen Gnadenordnung 
gehörig erscheint. 
2. Die Berufung zum Propheteutum erging mitunter ganz unerwartet. Da sie aber 
der Regel nach sich an bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten knüpfte, sammelten die Propheten 
auch wohl Schüler um sich und bereiteten diese auf deu möglichen Empfang der prophetischen 
Gabe vor. Die Weihe zum Prophetentnm geschah zuweilen, wie die zum Priestertum und 
zur Königswürde, durch Salbung oder ein anderes äußeres Symbol, wie die Berührung der 
Lippen durch einen Seraph, der Jsaias weihte. 
3. Prophetenschulen gründete schon Samuel, mit dem die Blüte des Prophetentums 
begann. Später sindtn sich solche in Rama, Bethel, Jericho, Gilgal. In diesen Schulen 
lebten junge Männer, Prophetensöhne genannt, unter der Leitung und Belehrung alter 
Meister zusammen. Zwar konnte die prophetische Begeisterung nicht künstlich gelehrt werden; 
aber es konnten junge Männer durch ernste Zucht, durch asketische Lebensweise und anhaltende 
Beschäftigung mit der Thora und tiefes Eindringen in den Geist des göttlichen Gesetzes, 
selbst durch religiöse Musik und Tanz dazu vorbereitet werden, um gleichsam als geeignete 
Gefäße, wenn eine Ausgießung des prophetischen Geistes erfolgte, bereit zu stehen. 
Wie lange diese Prophetenschulen bestanden, läßt sich nicht feststellen; sie scheinen nach 
den Zeiten des Elisäus eingegangen zu sein; die letzten Spuren derselben finden sich bei 
Amos. Aber die Macht des Prophetentums tritt von nun an in den Geschicken des Volkes 
und dem Entwicklungsgange des theokratischen Reiches tief und gewaltig eingreifend hervor. 
Bald Priester oder Leviten bald einfache Israeliten, unabhängig von Stammes- und Standes- 
Verhältnissen, standen die Propheten aus der Mitte des Volkes auf, oft trotz allem Sträuben 
ihrer vor dem Auftrage bangenden Natur. Ein Prophet im Bewußtsein und der Autorität 
seiner unmittelbaren Berufung war zugleich der „Mund" oder Bote Gottes und das persönlich 
gewordene Gewissen der Nation, das allen den Spiegel ihrer Vergehen vorhielt, ein Demagog 
und Patriot im edelsten Sinne, der in großen entscheidenden Wendepunkten als Bußprediger, 
als Warner und Tröster, als Bewahrer des Gesetzes, als Ausleger der alten Bundesver- 
heißuugen dem Volke, den Mächtigen, den Königen gegenübertrat. Innerhalb der Grenzen 
des Gesetzes, welche der wahre Prophet nie überschritt, besaß er eine unbeschränkte Freiheit 
der Rede, freilich oft mit Gefahr und Aufopferung seines Lebens. Das Gesetz selbst hatte 
seine Stellung vorgesehen und verordnet, daß ein Prophet das Recht habe, in der Volks- 
Versammlung oder sonst vor dem Volke zu reden, daß er unantastbar und nur Gott ver- 
antwortlich sei. Falsche Propheten, die im Namen eines fremden Gottes redeten oder das 
Volk zum Abfall von Jehova, zur Übertretung des Gesetzes verführten, sollten mit dem Tode 
bestraft werden. 
4. Vor allem rügten und bekämpften die Propheten das gemeine und Grundlaster der 
Abgötterei. Sie erhoben ihre warnende und strafende Stimme gegen das Sittenverderben, 
das mit den heidnischen Neigungen des Volkes in so enger Wechselwirkung stand; sie brand- 
markten das Versinken in mechanische Werkheiligkeit, die Ausartung der Priester, die Bestech- 
lichkeit der Richter. Sie verkündeten göttliche Strafgerichte, richteten aber auch das gebrochene, 
in die Gefangenschaft fortgeschleppte Volk wieder auf. Nicht bloß die Erhebung und der 
Untergang des eigenen Volkes, auch die Schicksale anderer, zum Teil selbst entfernter Völker 
bildeten das Thema ihrer Weissagungen. Und wie die Propheten in den Momenten einer 
ekstatischen Erhebung nur dasjenige schauten, was jeder Israelit, wenn auch dunkler und
	        
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