Full text: Charakterbilder aus der Geschichte der alten und beginnenden neuen Zeit (Bd. 1)

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Den Glauben an eine „bte ganze Natur itmfaffenbe Gottheit" nennt Aristoteles einen 
nransänglichen. Energisch behauptet er einen überweltlichen Geist, ber erhaben ist über bas 
Wechselspiel von Form unb Stoff, weil stofflos, beffen Natur bas „Volldasein an sich" ist, 
bie Ursache, bereu Wesen Nollwirklichkeit ist. Er erkennt Gott, selbst unbewegt, als Grund 
der Weltbewegung, als das Gnte und Beste, das höchste Gut, als den Schlußpunkt in der 
Reihe der Güter: „Wo es ein Besseres gibt, da gibt es ein Bestes; unter den Wesen ist 
eines besser als das andere; also gibt es auch ein Bestes, was das Göttliche sein muß." 
„Dem an sich Besten kommt das reine Denken des Besten zn." „Gott denkt das Göttlichste 
und Ehrwürdigste und es ist kein Wandel in ihm." Gottes Volldasein und Volldenken ist 
aber auch Leben, das vollkommenste und selige Lebeu, so herrlich, wie es uns nur vorüber- 
gehend znteil wird; er aber führt es in Ewigkeit; sein Dasein ist Seligkeit. Doch will Ari- 
stoteles die göttliche Betätigung uicht als Handeln gefaßt wissen; „das Wesen, welches sich 
am vollkommensten verhält, bedarf keiner Handlung; es ist sich selbst Zweck." 
Scheint es nun aber nicht, daß die göttliche Vorsehung ihre Bedeutung verliert, wenn 
Gott das Hanbeln abgesprochen wird? Es ist wahr, Aristoteles denkt sich Gott als einen 
überweltlichen, sogar dem Verkehr mit der Welt entrückten Geist; aber damit ist der aristo- 
telische Gottesbegriff keineswegs erschöpft. Zwar nennt der Stagirite den transzendenten 
göttlichen Geist a potiori Gott, aber er ist doch nicht bie ganze Gottheit. Soll ber aristotelische 
Gottesbegriff in feiner Ganzheit gefaßt werben, fo ist offenbar bas die Natur durchwaltende 
ja auch die dasselbe entbindende Bewegung in denselben einzubezieheu. Damit ist kein 
Widerspruch in den Gottesbegriff des großen Philosophen hineingetragen; sondern es zeigt 
sich eben bei Aristoteles dasselbe Ringen, Einheit und Mannigfaltigkeit, Transzendenz uub 
Jmmaueuz in Gott zu vereinigen, welches uns bei den Theologen und Philosophen des 
Altertums allenthalben entgegentritt. Das Problem dieser Vereinigung wird nicht durch 
spekulativen Scharfsinn noch durch mystische Intuition allein gelöst, sondern im Lichte des 
Glaubens erkannt, welches das Christentum aus die höchsten und letzten Fragen fallen ließ. 
In der Ethik verdanken wir Aristoteles die genaue Erforschung der wichtigsten Fragen 
über den Willen, die Freiheit, Zurechnung, Tugend usw. Die höchste Vollkommenheit des 
Menschen liegt nach Aristoteles in der Betätigung jener Seelenkraft, durch welche er mit der 
Gottheit verwandt ist und zu ihr vorzudringen vermag, in der betrachtenden, erkennenden 
Tätigkeit des Geistes oder der Vernunft. Intellektuelle Anschauung, Wissenschaft, welche aus 
den Prinzipien die Ergebnisse erweist, und Weisheit nennt er die geistigen Tugenden. Sie 
haben es mit dem seinem Wesen nach Höchsten, dem Notwendigen, das keiner Veränderung 
durch den menschlichen Willen unterliegt, zu tun; aber auch das Veränderliche ergreift der 
Geist, um es nach dem rechten Verhältnisse, ber recta ratio, zu gestalten ober zu normieren. 
Ihnen stehen gegenüber bie Charaktertngenben, Starkmut, Selbstbeherrschung uub Gerechtig- 
feit. Diese beruhen auf ber Bewältigung bes Begehrnngsvermögens ober ber Beherrschung 
ber Affekte durch bie Vernunft. Dem Begehrenben ist ber Zug zum Zuviel und Zuwenig 
eigen; die Vernunft sticht die Mitte und diese gewährt das Maß der betreffenden Willens¬ 
regung. Die vernunftgemäße Handlung foll nun die Quelle einer bleibenden Gesinnung werden 
und erst in der Verfestigung der von der Vernunft geleiteten Strebuugen liegt die ethische 
ober Charaktertugend. 
In der tugendhaften Tätigkeit, d. h. jener, die aus der Tugend hervorgeht und der- 
selben gemäß ist, liegt zugleich die Glückseligkeit. „Gut ist, was mich befriedigt, beglückt." 
Es wäre ganz und gar ungerechtfertigt, Aristoteles einen Endämonismus im gewöhnlichen 
Sinne vorwerfen zu wolleu; aber gewiß ist auch, daß sein Prinzip der Eudämouie nicht 
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