Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen und die Secunda höherer Lehranstalten

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Zusammentreffen werden. Da indessen die Stadt jeden Augenblick das 
furchtbare Waffer erwarten kann (in manchen Stadttheilen kommen die Ueber- 
fchwemmungen so häufig und plötzlich, daß man oft Abends nach Beendigung 
der Gesellschaft, wenn mittlerweile der Wind sich drehte, die Straßen über¬ 
schwemmt findet und nicht nach Hause gehen kann), so hat man Veranstal¬ 
tungen getroffen, die Einwohner schnell von drohender Gefahr zu benachrichtigen, 
damit jeder das Mögliche zu seinem Schutze thue. Wenn bei anhaltendem 
Westwinde die Meereswasser in die Newa eintreten und die äußerten Spitzen 
der Insel überschwemmen, so wird auf der Admiralität eine Kanone gelöst, 
und auf allen Thürmen werden die Wasserfahnen ausgesteckt, zmn Zeichen, 
daß die Stadt durch die Nereiden in Belagerungszustand versetzt sei. Die 
Kanonenschüsse werden alle Stunden wiederholt. So wie das Wasser die 
Ufer überschreitet und die unteren Theile der Insel überschwemmt, folgen sich 
die Signale der Alarmkanone alle Viertelstunden. Steigt es noch höher und 
schleicht es in die Stadt selbst ein, so donnern die Signale alle fünf Minuten 
und rufen am Ende, wenn das Wasser noch weiter geht, mit verzweifeltem, 
alle Minuten wiederholtem Geschrei die Hülfe der Boote und Schiffe herbei. 
Das Elend und die Noth, die eine Wasierflut in Petersburg in ihrem 
Gefolge hat, ist unbeschreiblich. Aller Mund ist noch voll von den Trauer¬ 
scenen, welche die große Waffernoth vom 17. November 1824 mit sich brachte. 
Sie ist die höchste, welche die Stadt bisher erlebte, und in allen Straßen 
ist ihre Höhe bezeichnet. Das Wasser kam sehr ruhig und ganz unschuldig 
heran, wie dies bei allen Petersburger Wafferfluten, bei denen kein Durch¬ 
bruch statthaben kann, der Fall ist, und viele Leute, wenn sie in entlegenen 
Stadttheilen die Alarmkanonen nicht gehört hatten, wunderten sich, ohne eben 
viel Böses zu ahnen, über das helle Wasser, das sie in den Straßen blinken 
sahen. Tausende ließen sich dadurch in ihren Geschäften nicht abhalten, fuhren 
und wanderten durch, und Hunderte büßten diese Arglosigkeit mit ihrem Leben. 
Vom heftigsten Westwinde gepeitscht, hob sich das Wasser immer mächtiger 
und schoß endlich eilenden Schrittes durch die Straßen, hob Alles, was es 
un Equipagen und Wagen auf ihnen fand, in die Höhe, ergoß sich durch die 
Fenster in die Souterrains und Parterres der Häuser und stürzte in mächtigen 
Säulen aus den Oeffnungen der unterirdischen Kloaken hervor. Am meisten 
Noth die „Basilius-Insel" und die „Petersburger Seite" *), auf welcher 
letzteren Insel viele kleine Leute in wenig soliden Häusern wohnen. Manche 
tzvlzerne Gebäude wurden vom Wasser ganz unversehrt und leise vom Boden 
gehoben und schwammen mit ihren Einwohnern in den Straßen umher. Die 
^guipagen, deren Passagiere und Kutscher trockene Höhen erklommen hatten, 
und an denen die armen Pferde, die sich im Geschirr nicht frei bewegen 
Konnten, meist elend umkamen, sammelten sich zu Dutzenden in den Gehöften. 
Alle Bäume der öffentlichen Plätze saßen so voll von Menschen, wie sonst 
von Sperlingen. Das Waffer stieg gegen Abend so hoch, und der Wind 
f^urde so stark, daß man alle Augenblicke fürchtete, die Kriegsschiffe möchten 
sich losreißen und in die Häuserreihen einbrechen. Die Nacht war besonders 
schrecklich, da die Fluten bis zum Abend noch immer stiegen, und in der 
*) Wahrscheinlich nannte man die perschiedenen Stadttheile Petersburgs „Seiten", 
'ndem man dabei seinen Standpunkt auf der Newa nahm. Die Basilius-Insel ist 
genannt von dem Capitän Basilius, der bei der Anlegung der Stadt in diesem Stadt¬ 
teile die Arbeiter commandirte, und die Petersburger Seite, weil zu ihr die eigentliche 
'"urg Peters des Gr., die Festung, gehörte. 
Pütz, Deutsches Lesebuch, 6. Aufl. 
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