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2. Dem goldrockigen Pirol aber wollte dergleichen Futter nicht
lange behagen. Als er grob ward und für sich selber sorgen
mußte, meinte er: „Fliegenbeine und dünne Raupen schicken
sich nur für graue Grasmücken und dürre Bachstelzen. Unser—
einer mub anders speisen und kann nicht mit dergleichen schmalen
Bissen auskommenl“
3. So fliegt er denn auf den Kirschbaum und legt sich auf
Obstkunde. Stets sucht er die besten Kirschen heraus und läßt
die schlechteren den Spatzen. Er wird ein Meister im Mausen
und ist dabei stets auf seiner Hut, wie ein echter Spitzbube es
sein mub. Nach allen Seiten schaut er sich um und horcht auf
jeddes Geräusch. Sieht er einen Jungen mit einem Stein kommen
oder gar den Mann mit der Flinte, so nimmt er beizeiten Reibaus,
leere Zanken und Stiele hinterlassend.
4. Aber auch für den Obstdieb bleibt die Strafe nicht aus.
So sitzt er eines Tages auf dem Baume und ist ganz glücklich
über die vielen schwarzen Herzkirschen, die ringsherum hängen,
eine immer süber und saftiger als dié andere. Da kommt ein
zweiter Pfingstvogel herzu und meint: „Halbpart, Bruder!“ Hu,
wie gerät da der Goldrock in Wut! Er gönnt dem andern selbst
den kahlen Kern nicht, fährt auf ihn los und zaust ihn, dabß die
Fecdern herumfliegen. Der Kamerad aber meint, er habe eben—
soviel Recht auf die Kirschen wie sein Kollege, und webrt sich.
Keiner will nachgeben, und während sie sich miteinander herum—
beihben, kommt der Bauer heran und schiebt mit Schroten die
ungeladenen Gäste herunter, Hermann Wagner.
213. Wie eine Stieglätamutter für ihre
Kleinen starb.
L. In meinem Garten stand ein Apfelbaum, auf dem ein
Nest sich befand, aus welchem fünf kleine Stieglitze munter
herausschauten. Ihr Mütterlein flog ab und zu und brachte immer
reichlich Futter. Einmal stand ich am Fenster und sah dem
Regen zu, den ein Gewitter brachte. Als nun der Donner rollte,
da kam hastig die Stieglitzmutter, setzte sich auf das Nest und
beschützte mit ihrem Leibe die Kleinen. Der Regen peitschte
immer toller die Aste des Baumes, und Hagelstücke rasselten
hindureh; aber die treue Mutter sab fest auf ihren Jungen und
breitete immer inniger ibr Gefieder über dieselben.
2. Als das Wetter ausgetobt hatte, sah ich sie noch immer
sitzen und rief ihr zu: „Nun fliege fort, du liebes, treues Vög-
lein; 's ist wieder heller Sonnenschein!“ Aber die Stieglitz-