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3. Der Keinegau.
Im Gebiete der Cherusker bildeten sich aus den Markgenossen¬
schaften nach und nach mehrere Gaue, die an Größe etwa den heutigen
Kreisen gleichkamen. Unsere Gegend an der obern Leine hieß der Leine¬
gau. Dieser gehörte zu den größten Gauen des Landes und erstreckte sich
von Friedland bis Nörten, vom Göttinger Walde im Osten bis zur
Weser und zum Südabhauge des Sollings im Westen. Den nörd¬
lichsten Punkt des Gaues bezeichnete ein Hagen oder tun (Zaun), Nord¬
hagen oder Nordtun genannt; ihm verdankt Nörten Namen und Ursprung.
An den Leinegau schloß sich im Norden der Rittegau an der Rhnme,
im Westen der Moorgau, in der Moringer Gegend, und im Osten,
aus dem heutigen Eichsselde, der Lisgau. Unweit Grone, auf einem
kleinen Hügel am linken Ufer der Leine, von dem aus man einen
großen Teil des Gaues übersehen konnte, versammelten sich dreimal
im Jahre die freien Männer des Leinegaus zur Beratung und zum
Gericht. Das war die Gerichts- oder Mahlstatt des Leinegaus; sie
wird noch jetzt durch eine alte, ehrwürdige Linde bezeichnet. Bis in
unser Jahrhundert ist auf diesem Hügel Recht gesprochen, und Ver¬
brecher sind daselbst an den Galgen geknüpft, gerädert, enthauptet,
oder aus andere Weise zum Tode gebracht. Der Hügel heißt noch
heute der Galgenberg.
4. Cherusker und Chatten.
100 n. Chr.
Südlich von den Cheruskern, an Werra und Fulda, wohnten die
Chatten; diese waren gleich den Cheruskern ein kriegerisches und
starkes Volk. Der römische Geschichtsschreiber Taeitus sagt von ihnen:
„Der Stamm ragt hervor durch größere Abhärtung, gedrungenen
Gliederbau, drohenden Blick und lebhaften Mut. Für Germanen ist
die Klugheit und Gewandtheit der Chatten groß41. Der chattische
Jüngling ließ sich Bart und Haupthaar so lange wachsen, bis er einen
Feind erschlagen hatte. Die engen Thäler des Chattenlandes boten
nicht Raum genug für die wachsende Volksmenge, und gern hätten
sich die Chatten im Lande der Cherusker neue Wohnsitze erobert. Da¬
her mußten die Cherusker auf ihrer Hut sein. Sie verstärkten die Grenz¬
wälle an der südlichen Grenze ihres Gebiets und stellten am Ein¬
gänge zum Leinethal bei Friedland einen Wachtposten auf. So lange
die Cherusker kriegstüchtig blieben, wagte sich kein Chatte in ihr Ge¬
biet. Als aber die Römer aus unserm Vaterlande vertrieben waren,
trat eine lange Friedenszeit ein, die den Cheruskern verderblich wurde.
Tacitus berichtet darüber: „Die Cherusker haben lange Zeit ungestört
in allzutiefem, erschlaffendem Friedensschlummer gelegen, was mehr
Bequemlichkeit als Sicherheit gewährt; denn träge Ruhe zwischen
übermütigen und gewalttätigen Nachbaren ist sicherlich übel ange-