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89. Das Kind unter den Wölfen.
Von Friedrich Jacobs.
Die Feierabende in Mainau. 1. Teil. (7. Abend.) Leipzig 1820. S. 127.
Auf dem Riesengebirge lebte einmal eine arme Frau,
die hatte ein kleines Kind und auch eine große
Herde. Die Herde aber gehörte nicht der Frau, sondern
sie hütete sie nur. Einmal saß sie mit ihrem Kinde in
dem Walde und gab dem Kinde Brei aus dem Napfe,
und die Kühe weideten unterdessen im Grase. In dem
Walde aber waren böse Wölfe, und als die Kühe von
dem Grase in den Wald gingen, wo es kühl war und
auch viel Gras wuchs, dachte die Frau, der Wolf könnte
kommen und könnte die Kühe fressen. Und da gab sie
dem Kinde den Napf mit dem Brei und einen hölzernen
Löffel dazu und sagte: „Da, Kindchen, nimm und iß;
nimm aber den Löffel nicht zu voll.“ Und nun stand
sie auf und ging in den Wald und wollte die Kühe her¬
austreiben. Wie nun das Kind so allein da saß und aß,
kam eine große, große Wölfin aus dem Walde heraus
gesprungen und gerade auf das Kind los und faßte es
mit den Zähnen hinten an der Jacke und trug es in den
Wald. Und da die Mutter wiederkam, war kein Kind
mehr da, und der Napf lag auf der Erde, aber der Löffel
lag nicht dabei: denn den hatte das Kind in der Hand
festgehalten. Und wie das die Mutter sah, dachte sie
gleich: „Das hat kein Mensch getan, sondern der Wolf,“
und lief in das Dorf und schrie entsetzlich, daß die Leute
herauskämen.
Unterdessen kam ein Bote durch den Wald gegangen,
der hatte sich verirrt und wußte nicht, wo er war. Wie
er so durch die Büsche geht und den Weg sucht, hört
er etwas sprechen und denkt gleich: „Da müssen doch
wohl Leute sein!“ Aus dem Gebüsch aber vernahm er
die Worte: „Geh, oder ich geb’ dir eins!“ Und wie er
nun das Gebüsch voneinander tut und sehen will, was
es ist, sitzt ein Kindchen auf der Erde und sechs kleine