474
Dritter Zeitraum des Mittelalters: 1096-1273.
Andronikus hatte noch nicht die Bestrafung derer, welche ihm jene Ge¬
fahr bereitet hatten, vollendet, als eine neue noch schlimmere Gefahr für ihn ein¬
brach. Der Mundschenk Alexius Komnenus, ein Urenkel des Kaisers
Johannes Komnenus, welcher von Andronikus nach Polen oder Rußland
war verwiesen worden, verließ plötzlich den Ort seiner Verbannung und be¬
gab sich an den Hof des Königs Wilhelm von Sicilien. Es gelang ihm
leicht, den normannischen König, welcher die Gelegenheit, eine normannische
Herrschaft in Epirus und andern Provinzen des griechischen Reiches zu
gründen, gern benutzte, zum Kriege gegen den Usurpator Andronikus zu be¬
wegen. Dyrrachium wurde von einem Theile der normannischen Landtruppen
im ersten Angriffe erobert und die feste Stadt Thessalonich, welche von der
Flotte des Königs von Sicilien angegriffen wurde, widerstand nicht länger
als zehn Tage. Andronikus traf zwar einige Anstalten zur Vertheidigung
von Constantinopel, überließ sich jedoch, obgleich von dem Schauplatze des
Krieges sehr ungünstige Nachrichten einliefen, einer unbegreiflichen Sorglosig¬
keit. Er schwelgte, ungeachtet seines hohen Alters, in den Genüssen der
rohesten und ausgelassensten.Sinnlichkeit, und wenn er nach der Stadt zu¬
rückkam, so verbreiteten neue Hinrichtungen oder Verstümmelungen Angst
und Schrecken. Er entfernte die Griechen immer mehr von seiner Person
und umgab sich mit einer zahlreichen Leibwache von Fremden; aber auch
diese besaßen nicht sein Vertrauen und durften sich in der Nacht seinem
Schlafgemache nicht nähern; ein Hund von furchtbarer Größe und Stärke
war der einzige Wächter des Andronikus während seiner nächtlichen Ruhe.
Er konnte sich nicht verbergen, daß die Zahl seiner Anhänger sich täglich
minderte und die Sehnsucht des Volkes nach einer Aenderung des Zustandes
der Dinge immer heftiger wurde. Zuletzt suchte er Rath bei einem Wahr¬
sager. Dieser erblickte in dem Wasser die Buchstaben S und I, wodurch
die Furcht Andronikus', daß ihn Isaak Komnenus, der Tyrann von Cypern,
um Thron und Leben bringen würde, eine neue Begründung erhielt. Angst¬
voll fragte er den Wahrsager: „Zu welcher Zeit wird das geschehen, was
du gesehen hast?" woraus die Antwort erfolgte: „Noch vor Kreuzeserhöhung"
(den 14. September). Diese zweite Antwort des Wahrsagers verspottete er,
indem er meinte, daß Isaak nicht int Stande wäre, in einer so kurzen Zeit
nach Constantinopel zu kommen und sich des Thrones zu bemächtigen;
Johannes Tyras aber, welcher kürzlich zu der wichtigen Stelle eines Richters
des höchsten Gerichtshofes ernannt worden, bemerkte, daß ein anderer Isaak
in der angegebenen Zeit die Weissagung wohl erfüllen könnte, nämlich
Isaak Angelus, ein Seitenverwandter der Komnenen. Andronikus achtete
zwar nicht auf diese Warnung, weil er den Isaak Angelus für einen
feigen und kraftlosen Menschen hielt; Stephanus Hagiochristophoretes aber,
welcher an allen Verbrechen und Grausamkeiten seines Herrn Theil hatte und
daher wohl einsah, daß der Fall des Kaisers auch seinen Untergang zur