50. Die kretische Meerherrschaft.
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mit dem Archipelagus hingewiesen, als daß seine Geschichte sich nach
einer andern Richtung hin hätte entwickeln können.
Die erste Kunde, die von Kreta auf uns gekommen ist, meldet von einem
hundertstädtigen Lande und von der Hauptstadt Knosus, dem Herrschersitze
des Minos. Die erste Reichsmacht des hellenischen Alterthums war ein
Insel- und Küstenstaat, fein erster König ein Seekönig. Die Inselgruppen
des Archipelagus, welche die Alten als ein großes Trümmerfeld ansahen,
gleichsam als die übrig, gebliebenen Pfeiler einer von den Fluten zerrissenen
Brücke zwischen Asien und Europa, liegen zu zerstreut im Meere, als daß
sie aus sich selbst und unter sich eine staatliche Ordnung hätten begründen
können. Es hat hier zu allen Zeiten einer auswärtigen Macht bedurft, um
die schwächeren Insulaner zu schützen, die übermächtigen zu züchtigen, um
Recht und Gesetz zu begründen. Diese erste große That hellenischer Geschichte
ist an den Namen des Minos geknüpft. Ihm haben es die folgenden Ge¬
schlechter gedankt, daß er zuerst eine Seemacht gegründet hat, welche einen
andern Zweck hatte, als Plünderung der Küsten; er hat die mit Phöniciern
gemengten Griechen der asiatischen Küste, welche unter dem Namen der Karer
das Jnselmeer als einen ihnen überlassenen Tummelplatz gegenseitiger Be¬
feindung ansahen, zu geordneten Niederlassungen und friedlichem Erwerbe
gezwungen, die sich aber dieser Ordnung nicht fügen wollten, mit ihren
Piratennachen aus dem Archipelagus vertrieben.
Bis zum Hellesponte, der nördlichen Pforte des Meeres, reichen die
Niederlassungen derselben Insulaner, welche im Süden die Thorwächter waren
und gegen phönicische Kaperschiffe den Eingang hüteten. Unter weitreichendem
Schutze des Königs zieht der kretische Schiffer feine Straße; er eröffnet neue
Bahnen jenseits Malea in dem pfadlosern Meere des Westens; dem Golfe
von Tarent gibt ein Enkel des Minos seinen Namen; in Sicilien wird das
phönicische Makara zur Griechenstadt Minoa —- so erscheint schon alles Land,
das an griechischem Küstenklima und griechischer Vegetation Theil hat und
nun auch an griechischer Bildung Theil zu nehmen vorzugsweise berufen
war, zu einem großen Ganzen vereinigt.
Man erkennt leicht, daß sich an das minoische Kreta die Vorstellung einer
durchgreifenden Culturepoche anschließt, und was nach dem Bewußtsein der
Griechen damit zusammen hing, haben sie um die Gestalt des Minos ver¬
einigt, so daß es unmöglich ist, durch den Nebelduft der Sage die festen
Umriffe einer geschichtlichen Persönlichkeit zu erkennen. Wie alle Heroengestal¬
ten, reicht auch die des Minos durch verschiedene Perioden hindurch; denn
Alles, was die Griechen ihrem Minos zuschreiben, der Kern aller Ueberlie¬
ferung, an welchem der besonnene Thucydides festhält, hat ja keinen andern
Inhalt, als daß Ordnung und Recht, Staatengründung und mannichfaltige
Gottesdienste von feiner Insel ausgegangen sind.