22 Geschichte des Alterthums. — Morgenländische Völker.
Liebe zu ihrer Mutter. Diese war Priesterin. Einst bei einem Feste mußte
sie nothwendig nach dem Tempel fahren; aber ihre Ochsen kamen nicht zu
rechter Stunde vom Felde. Da spannte sich das schöne Brüderpaar selbst
vor den Wagen und zog die alte Mutter bis zum Tempel. Und als das
dort versammelte Volk bewundernd umherstand, und die Männer die Kraft
der Jünglinge hochschätzten, die Frauen aber die Mutter über den Besitz
solcher Kinder glücklich priesen, wurde die Mutter tief gerührt. Freudig
eilte sie mit ihren Söhnen nach dem Tempel, warf sich vor dem Bilde der
Göttin nieder und flehte, sie möchte ihren Kindern geben, was für diese
das Beste wäre. Daraus sanken die betenden Jünglinge, von Ermüdung
überwältigt, in tiefen Schlaf und erwachten nicht wieder. Die Griechen
aber setzten ihnen Ehrensäulen zum Denkmale ihrer schönen That und ihres
schönen Todes". „D athenischer Fremdling!" rief Krösus unwillig, „achtest
du denn mein Glück so gering, daß du mich nicht einmal mit gemeinen
Bürgern in Vergleichung stellst?" Solon antwortete: „O Krösus! Niemand
ist vor seinem Tode glücklich zu preisen. Du bist jetzt sehr reich und König
vieler Menschen; den Glücklichsten aber kann ich dich nicht eher nennen,
als bis ich höre, daß du dein Leben glücklich vollendet hast".
Krösus befragt das Orakel. Gar bald sollte Krösus erfahren, daß
Solon Recht habe. Er rüstete nämlich gegen Cyrus ein Heer. Bevor er
aber ausrückte, schickte er nach Delphi, einer Stadt in Griechenland. Die
Priester standen daselbst in dem sonderbaren Rufe, als offenbarten die
Götter vorzüglich durch ihren Mund den Menschen die Zukunft. Er ließ
unermeßliche Geschenke an sie vertheilen und nach dem Ausgange des bevor¬
stehenden Krieges fragen. Die Antwort lautete: „Geht.Krösus über den
Halys, so wird er ein großes Reich zerstören".
Krösus vor Cyrus. Jetzt hielt sich Krösus des Sieges gewiß. In
freudiger Erwartung zog er über den Halys dem Cyrus entgegen. Krösus
aber wurde geschlagen und seine Hauptstadt erobert. Ihn selbst führte
man gefangen zu Cyrus. Im ersten Rausche des Sieges befahl dieser,
ihn lebendig zu verbrennen. Und sogleich wurde ein Scheiterhaufen
errichtet und Krösus gefesselt darauf gestellt. Schon schlugen hier und da
die lichten Flammen gen Himmel auf, als der Unglückliche, eingedenk der
Worte des griechischen Weisen, aus seiner dumpfen Betäubung erwachte.
Er schrie plötzlich durch die tiefe Stille des versammelten Volkes dreimal
laut aus: „O Solon! Solon! Solon!" Das hörte Cyrus und wollte
wissen, wen er anrufe. Er ließ ihn deshalb herunternehmen. Anfangs
wollte er nicht bekennen: endlich aber sagte er: „Einen Mann, dessen Unter¬
redung ich um viele Schätze allen Fürsten wünsche". Dann erzählte er ihm
wehmüthig das mit Solon geführte Gespräch. Cyrus wurde tief gerührt.
Er bedachte, daß auch er ein Mensch sei und daß unter den menschlichen
Dingen nichts beständig bleibe. Er schenkte ihm großmüthig das Leben
und behielt ihn als Freund und Rathgeber bei sich. Krösus leistete ihm
nachher durch seine Klugheit gute Dienste.
Erklärung des Orakels. Der Errettete schickte nun die Ketten, die
er auf dem Gerüste getragen hatte, zu den delphischen Priestern und ließ
fragen, warum sie ihn doch für die vielen Geschenke, die er gebracht habe,
so betrogen hätten. Die Priester aber ließen ihm zurücksagen, sie hätten
ihn nicht betrogen. Ein großes Reich sei ja zerstört, und nur das hätten
sie ihm vorbergesagt. Ob aber das persische oder sein eigenes gemeint
gewesen sei, oas sei ihm nicht dabei gesagt.
Cyrus besiegt Babylon. Cyrus zog darauf gegen Babylon, und,
ungeachtet der hohen und dicken Mauern und der tiefen Gräben, bezwang
er die Stadt durch List. Er ließ das Wasser des Euphrat durch einen