Das Zeitalter Wilhelms I.
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Gegen 4 Uhr nachmittags war der Feind aus allen seinen Stellungen bis
unter die Mauern von Sedan zurückgeworfen. Trotzdem zögerte man in Sedan noch
immer mit der Übergabe, bis auf Befehl des Königs bayerische Batterien die Mün¬
dungen ihrer Geschütze gegen die schwer bedrängte Stadt richteten. Zischend schlugen
die Granaten ein und an mehreren Stellen stiegen Flammen und Rauchsäulen gen
Himmel auf. Da ließ der König das Feuer einstellen und sandte den Oberstleutnant
von Bronsart als Parlamentär mit weißer Fahne ab, um der Armee und der Festung
die Übergabe anzubieten. Derselbe kehrte mit der Nachricht zurück, daß Napoleon
selbst sich noch in Sedan befinde, und daß bereits ein Adjutant desselben unterwegs
sei, um dem König ein eigenhändiges Schreiben des Kaisers zu überbringen. General
Wimpffen lehnte die Aufforderuug zur Übergabe ab.
Es war gegen 7 Uhr, die Sonne war eben blutrot hinter schwarzem Gewölk
verschwunden, als der kaiserliche Adjutant mit der Parlamentärfahne nahte. In der
Mitte eines weiten Halbkreises, in welchem sich die Umgebung des Königs mit ge¬
spannter Erwartung ausgestellt hatte, stand König Wilhelm ganz allein, als sich ihm
der französische General Reille, ehrfurchtsvoll sich verbeugend, mit den Worten näherte:
„Ich habe einen Brief des Kaisers zu übergeben." Nachdem der König den General
flüchtig begrüßt hatte, entfaltete er das Schreiben, das die Worte enthielt:
„Mein Herr Bruder! Nachdem es mir nicht vergönnt gewesen ist, in der
Mitte meiner Truppen den Tod zu finden, so bleibt mir nichts übrig, als meinen
Degen den Händen Eurer Majestät zu übergeben. Napoleon."
Da sich hiernach der Kaiser nur für seine Person als Gefangener ergab und
General Reille erklärte, daß er zu weiteren Verhandlungen nicht berechtigt sei, so ant¬
wortete der König:
„Indem ich die Umstände, unter denen wir uns begegnen, bedauere, nehme
ich den Degen Ew. Majestät an und bitte Sie, einen Offizier zu bevollmächtige«, um
über die Kapitulation der Armee zu verhandeln, welche sich so brav unter Ihrem
Befehle geschlagen hat. Meinerseits habe ich den General von Moltke hierzu bestimmt?)
Am 2. September schloß General Wimpffen die Kapitulation
für Heer und Festung ab. Die Bedingungen lauteten dahin, daß das
französische Heer kriegsgefangen wurde, daß die Offiziere aber gegen
ihr Ehrenwort, nicht weiter gegen Deutschland kämpfen zu wollen, frei
ausgingen. 84000 Mann waren gefangen, außer den 21000, welche
während der Schlacht sich ergeben hatten. Von französischen Offizieren
gerieten 3000 in deutsche Gefangenschaft; nur wenige waren über die
belgische Grenze entkommen. Es war ein Erfolg, wie die Weltgeschichte
seinesgleichen kaum aufweist. Napoleon hatte eine kurze Unterredung
mit König Wilhelm und wurde dann nach Wilhelmshöhe bei Kassel
geleitet.
Ein Sturm freudiger Begeisterung, wie sie wohl seit der großen
Völkerschlacht von Leipzig nicht wieder in Preußen und Deutschland
*) Über die Begegnung Kaiser Napoleons mit Graf Bismarck, die Zusammen¬
kunst König Wilhelms mit Napoleon und Napoleon auf dem Wege nach Wilhelms*
höhe s. meine ,,Beglejtstoffe." Leipzig. 1894.