Full text: Vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart (3)

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Und auch in der Auffassung der inneren Politik begann sich eine ^ 
Wandlung in ihm vorzubereiten. Seine ersten Briefe aus Frank- ^ 
furt, an Gerlach und den Minister von Manteuffel, lauteten noch^**^/*^ 
ganz reaktionär, im Sinne des Bruches mit der Konstitution und 
des Kampfes mlt der Bureaukratie; er tadelte die Lauheit der Re¬ 
gierung, die durch halbe Maßregeln die Opposition ermutige und 
die Freunde enttäusche, statt sich auf die eigene Kraft zu verlassen 
und die Gegner niederzuwerfen. Aber schon im September sprach 
er gegen seinen Chef, „auf die Gefahr hin, von ihm für einen 
konstitutionellen Renegaten gehalten zu werden", die Meinung aus, 
daß ein Gewaltschritt aur Beseitigung bet Verfassung. ein formeller 
Bruch derselben unter den jetzigen Umständen nicht einmal wünschens-l 
wert, geschweige denn notwendig wäre; die Verfassung habe durch 
die Art, wie sie sich in den beiden letzten Jahren ausgebildet und ) 
interpretiert habe, aufgehört, das Regime an sich zu hemmen und 1 
werde mehr unb mehr das Gefäß, dem erst die Persönlichkeiten, 
welche regieren, ben Inhalt verleihen. Der Gegensatz zwischen beiden ' 
Anschauungen, so schroff er auf den ersten Blick erscheinen mag, tritt ’ 
dennoch fast zurück, wenn wir das Motiv ins Auge fassen, von dem 
Bismarck sich in jedem Falle leiten ließ. Es war beide Male das 
gleiche: im Juni riet er zu rücksichtslosem Vorgehen, weil die Re¬ 
gierung stark genug sei, den Widerstand zu brechen, wenn sie nur 
wolle; im Herbst empfahl er ihre Toleranz, weil sie stark genug sei, 
ihren Willen auch mit der neuen Verfassung durchzusetzen — voraus¬ 
gesetzt, wie er hinzufügte, daß sie aus dem angeblichen „Geist" des 
konstitutionellen Systems keine Verbindlichkeiten für sich selbst er¬ 
wachsen lasse, vielmehr nur solche Veränderungen bes Rechtszustanbes 
anerkenne, welche nach strikter Auslegung ber Verfassungsparagraphen, 
expressis verbis unb zweifellos in letzteren ausgesprochen seien. Er 
näherte sich bamit betn Wege ber Gothaer, bie auf ein zugleich 
mächtiges unb liberales Preußen hinsteuerten, brauchte aber dennoch 
nicht feinen angestammten Boben zu verlassen. Jene sprachen viel 
von Preußens Große, aber sie bachten babei mehr noch an Deutsch¬ 
land ; benn sie wollten Preußens Kraft ben nationalen unb liberalen 
Zielen bienstbar machen, mithin Interessen unterwerfen, bie seine 
Gegenmacht aufzuheben brohten: Bismarck hingegen stritt gerade für 
die Unabhängigkeit der preußischen Krone, und nur, weil dieselbe von 
den liberalen Meinungen nichts zu fürchten habe, riet er diese da¬ 
heim zu tolerieren und nach außen hin gelegentlich zu fördern; 
tusniöerJeiiieJäMläeiigungbaUeJtchaerä Zu- 
gleichlernerkte 'er, daßPreuAnal^mrn ber günstigen Lage sei, 
nach Belieben der öffentlichen Meinung zu trotzen oder sie für sich 
auszunutzen. Denn die kleinen Regierungen, die dem Sturm fast 
erlegen waren, hatten sein Wiedererwachen fast am meisten zu 
fürchten, sie hatten ein natürliches Interesse an der Reaktion, und 
dies besonders trieb sie auf die Seite Österreichs. Und dabei waren
	        
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