Full text: Vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart (3)

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Die „manchesterliche" Opposition in Deutschland griff nun den 
Punkt auf, daß der Kaiser in eigener Person vor den Reichstag 
getreten war und die Durchführung der sozialen Gesetzgebung als 
seinen eigensten Wunsch bezeichnet hatte. Sie erklärte das für eine 
Verletzung der Verfassung und ritt den Satz: le roi regne; il ne 
gouverne pas, der König ist Staatsoberhaupt, aber er regiert nicht 
selbst; das ist Sache der Minister, ohne deren Gegenzeichnung kein 
Erlaß des Königs irgendwelche verpflichtende Kraft hat. Gegen 
diese Theorie richtete sich der Königliche Erlaß vom 4. Januar 1882. 
„Das Recht des Königs, die Regierung und die Politik Preußens 
nach eigenem Ermessen zu leiten, ist durch die Verfassung einge¬ 
schränkt, nicht aufgehoben. Die Regierungsakte des Königs bedürfen 
der Gegenzeichnung eines Ministers; aber sie bleiben Regierungsakte 
des Königs, und es ist Verdunkelung der verfassungsmäßigen Kron- 
rechte, wenn deren Ausübung so dargestellt wird, als ob sie von den 
verantwortlichen jedesmaligen Ministern und nicht vom König selbst 
ausgingen. . . . Mir liegt es fern, die Freiheit der Wahlen zu 
beeinträchtigen; aber für diejenigen Beamten, welche mit der Aus¬ 
führung meiner Regierungsakte betraut sind, erstreckt sich die durch 
den Diensteid beschworene Pflicht auf Vertretung meiner Politik auch 
bei den Wahlen." Ein Beamter, der das nicht auf sich nehmen 
will, muß, das liegt in der Folgerichtigkeit des Gedankens, seinen 
Abschied nehmen. Am 24. Januar 1882 vertrat Bismarck diesen 
Erlaß im Reichstag in einer gewaltigen Rede, die in folgenden 
Sätzen gipfelte: „Die konstitutionellen Legenden, welche wie wucherische 
Schlingpflanzen sich um den klaren Wortlaut der Verfassung legen, 
müssen bekämpft werden. Die Verfassung besagt: Dem König 
steht die vollziehende Gewalt zu; von den Ministern ist gar nicht 
die Rede. Der Abgeordnete Mommsen hat mit einer bei einem so 
angesehenen Geschichtsschreiber ungewöhnlichen Feindschaft gegen die 
Wahrheit mir vorgeworfen, daß ich das absolute Regiment herstellen 
wolle. Diese Ministerdiktatur wird überhaupt erst möglich, wenn Sie 
das Ministerregiment an Stelle des königlichen setzen. . . . Wenn 
Sie uns diesen starken, in unserer hundertjährigen ruhmvollen Ge¬ 
schichte tief wurzelnden König zersetzen, verderben, in ein Wölken¬ 
kuckucksheim verpslüchtigen wollen, so daß wir ihn gar nicht mehr 
erblicken, so bringen sie uns das Chaos! Ohne diesen König, der 
keine auf Majoritäten gestützte Hausmeierei sich entwickeln ließ, 
würden wir heute noch in der Eschenheimer Gasse festsitzen" — 
wären weder 1864 die Elbherzogtümer befreit, noch 1866 Österreich 
gezwungen worden, die Einheit Deutschlands zuzulassen; denn beidemal 
war die Volksvertretung dagegen und würde, wenn sie die Kraft 
gehabt hätte, durch Minister dem König, der nur regner, pas 
gouverner soll, ihren Willen aufgedrängt haben. „Also, rief Bis¬ 
marck aus, „lassen Sie dem König seinen werbenden Charakter; gönnen 
Sie ihm doch, daß er aus dem ministeriellen Inkognito heraustritt
	        
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