fullscreen: Die Heimat (3 = 4. Schuljahr, [Schülerband])

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4. Königstöchterlein im Turm. 
Ein Kinderspiel.) 
Ein Mädchen setzt sich und streift das Oberröckchen über den Kopf, 
die anderen Kinder ziehen einen Kreis um dasselbe, und jedes greift an 
dem Rodlein mit beiden Händen an. Eins der Kinder geht dann einige⸗ 
mal im Kreise herum und singt: 
Wer sitzt in diesem Türmelein? 
Die anderen antworten:) 
Des Königs, Königs Töchterlein. 
Das umhergehende Mädchen:) 
Darf man sie auch beschauen? 
Die anderen:) 
Nein, der Turm ist gar zu hoch, 
mußt einen Stein abhauen. 
Das Mädchen schlägt nun auf die Hände eines der Kinder im Kreise, 
so daß dieses den Rock loslassen muß. Es wiederholt sodann die Fragen 
so lange, bis alle Hände weg sind. Das Königstöchterlein springt nun 
plötzlich auf und sucht ein Kind zu erhaschen. Das eingefangene Kind 
iinin ladann die Selle der Königstochter ein, und das Spiel beginnt von 
neuem auf dieselbe Weise. Die Kinder können dabei auch folgende Verse singen: 
Ringel, Ringel, Taleringen, Was macht die Königstochter denn? 
wer siht in diesem Turme drinnen? Sie spinnt so zarte Seide, 
„Königs, Königs Töchterlein, zart, zart wie ein Haar, 
mit sieben kleinen Kinderlein.“ hat gesponnen sieben Jahr.“ 
Was essen sie gern? Kann man sie nicht anschauen? 
„Fischelein.“ „Nein, der Turm ist viel zu hoch, 
Was trinken sie gern? mußt einen Stein abhauen.“ 
„Roten Wein.“ 
Dieses Spiel ist uralt. Deutsche Kinder spielen es seit länger als 
tausend Jahren und spielen es in allen deutschen Landen. Es stammt aus 
altheidnischer Zeit. Unter der „Königstochter“ ist die Holda zu verstehen, 
die Gbtun des Frühlings und der Sommerherrlichkeit. Sie wurde im 
Winter als gefangen und verbannt gedacht. Man glaubte, ihre Feinde, 
die Eis⸗, Reif und Windriesen, die bösen Geister des Winters, hätten sie 
verzaubert. Unter dem Turme, in welchem die Königstochter sitzt, verstanden 
unsere Vorfahren die Wolkenmassen des Winters, die sich oft zu einer Wolken⸗ 
burg auftürmen. Die Königstochter spinnt Seide, d. h. die Göttin Holda, 
die große Wolken- und Wasserfrau, die das Wetter macht, sendet für die 
Wintersaat den warmhaltenden Schnee. Sagen doch heute noch viele 
deutsche Kinder, wenn es schneit: „Frau Holle (Holda) macht ihr Bett!“ 
Die sieben Jahre bedeuten die sieben Wintermonate von Oktober bis Mai. 
Im Frühlinge wird die von den Wintermächten gefangen gehaltene Göttin 
wieder erlöst. Die Winterburg wird zerbrochen, Stein um Stein wird 
abgehauen, und die Frühlingsgöttin kommt unter Jubel wieder zum Vor— 
scheine. Vor Freude über die Frühlingswiederkehr wurden in der heidnischen 
Zeit Feste gefeiert, bei welchen man spielte, tanzte und sang. Unser 
Spiellied ist ein Rest aus jener alten deutschen Vorzeit. H. Weber.
	        
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