290
2. Da drunten tief im Unterland,
Da hab ich eine Muhme
Von feinem Duft und hohem Stand
Und weltbekanntem Ruhme:
Die Nelke prangt im Gartenbeet
In voller Pracht und Majestät,
Des Sommers schönste Blume.
3. Ich bin kein zärtlich Mutterkind,
Hab niemand, mich zu pflegen;
Mich wiegt allein der Sommerwind,
Mich wäscht allein der Regen;
Ich lebe nur von Licht und Luft,
Bin ohne Glanz und ohne Duft,
Doch lustig allerwegen.
4. Ich bin ein leichter Springinsfeld
Und weiß von keinen Sorgen,
Ein fröhlicher Guckindiewelt,
Zufrieden heut wie morgen;
Ob Sonne scheint, ob Wolken ziehn.
Ich blüh und welke unbeschrien.
Vor aller Welt verborgen. Karl Gerok.
128. Arion.
1. In alten Zeiten hat es sich einmal zugetragen, daß ein
Dichter übers Meer in ein fremdes Land reisen wollte. Er war
reich an schönen Kleinodien und köstlichen Dingen, die ihm
aus Dankbarkeit verehrt worden waren. Er fand ein Schiff
5 am Ufer, und die Leute darin schienen bereitwillig, ihn für den
verheißenen Lohn nach der verlangten Gegend zu fahren. Der
Glanz und die Zierlichkeit seiner Schätze reizten aber bald ihre
Habsucht so sehr, daß sie untereinander verabredeten, sich seiner
zu bemächtigen, ihn ins Meer zu werfen und nachher seine Habe
10 untereinander zu verteilen. Wie sie also mitten im Meere
waren, fielen sie über ihn her und sagten ihm, daß er sterben
müsse, weil sie beschlossen hätten, ihn ins Meer zu werfen. Er
bat sie auf die rührendste Weise um sein Leben, bot ihnen
seine Schätze zum Lösegeld an und prophezeite ihnen großes