Full text: Charaktere aus der neuen deutschen Geschichte vornehmlich in zeitgenössischer Schilderung

— 39 — 
4. Johann Agricola. 
Kawerau, Johann Agricola von Eisleben. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte. 
Berlin 1881. S. 337 ff. 
Agricolas Begabung trat am meisten auf praktischem Gebiet hervor: 
als Prediger hat er von den Ansängen seiner öffentlichen Wirksamkeit 
an bis in sein Alter anregend und erbauend gewirkt; iu den verschiedensten 
Stellungen, die er bekleidet hat, als Schulmann wie als Reichstags¬ 
prediger, im Konsistorium zu Wittenberg wie als Generalsuperiutendent 
in Berlin, verstand er es, mit der ihm eigenen Leichtigkeit und Beweg¬ 
lichkeit des Geistes sich in Verhältnisse und in Personen zu finden uud 
sich brauchbar zu erweisen. Verfehlt war es dagegen, daß er auf dog¬ 
matischem Gebiete eine Rolle zu spielen suchte: hier fehlte es ihm ebenso 
an Originalität — denn er zehrte hier stets von teilweise unrichtig 
aufgefaßten Gedanken Luthers — wie an systematischer Klarheit, wie 
endlich an der Energie der Überzeugung. Sein Charakterbild ist wesentlich 
bestimmt durch sein sanguinisches Temperament. Er besaß die Vorzüge 
des Sanguinikers in hohem Maße, aber auch die Fehler eines solchen 
in nicht geringerem Maße. Bestimmbar, leicht zu begeistern, aber ohne 
nachhaltiges Beharrungsvermögen, so ist er sein lebelang gewesen. Mit 
Begeisterung hat er an Luther sich angeschlossen, uud solange dieser aus 
ihn Einfluß übte, steht er voran in den Reihen der Evangelischen, frisch 
und fröhlich im Kampfe für das Evangelium wie kein anderer; seitdem 
er aber bei Hose heimisch geworden ist, ist er in starker Abhängigkeit 
von den politischen oder kirchlichen Intentionen, die ihm dort entgegen¬ 
treten, und erweist sich bestimmbar, in grellem Gegensatz zn seiner kirch¬ 
lichen Vergangenheit, bis hin zur Verherrlichung des Interims. Man 
hat aus dieser feiner traurigen Thätigkeit den Beweis entnehmen wollen, 
daß Luther mit feiner entschiedenen und schroffen Lösung der alten 
Freundschaftsbande ihn ganz richtig- beurteilt habe; er habe sich in seinem 
Verhalten gegen Agricola als trefflichen Menschenkenner bewährt. Allein, 
man vergißt dabei, daß Luther gerade durch die Weife, wie er ihn von 
dem Wittenberger Theologenkreise hinweggedrängt und dadurch in um 
so größere Abhängigkeit von Joachim getrieben hat, ihn in jene Zwitter¬ 
stellung gebracht hat, von welcher ans sein trauriges Verhalten in den 
Jnterimshändeln erst psychologisch erklärlich wird. Agricolas Versuch, 
sich von Luther zu emanzipieren, war so traurig ausgefallen, daß er 1540 
gern wieder zu seinem alten Lehrmeister zurückgekehrt wäre und an diesem 
seinen theologischen Rückhalt gewonnen hätte. Da aber Luther ihn 
konsequent zurückwies, so hat er eben dadurch sein Teil beigetragen, daß 
sich Agricola dermaßen zum Hoftheologen entwickelte. Hierbei darf auch 
nicht übersehen werben, baß Joachim durch bie außergewöhnliche persön¬ 
liche Mühwaltung, mit welcher er Agricolas Wittenberger Angelegenheiten 
zu klären sich angelegen fein ließ, biefen von vornherein in solchem Maße 
sich verpflichtet hatte, baß es nicht verwunderlich ist, wenn ber so leicht 
Bestimmbare in völlige Abhängigkeit von seinem neuen Herrn geriet.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.