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würdiges, sagt Tacitus, sollte irgendwo mehr aufkommen und sich blicken lassen.
Aber umsonst bedrängte und verjagte er alle Freunde des Guten und Wahren;
sein Drohen und Wüten reichte nicht hin, eine Menge edler Jünglinge zu ver¬
hindern, daß sie nach Bithynien wanderten, Epiktets Beispiel zu schauen und
Weisheit zu hören; Verbannung und Schwert hatten noch Viele übrig gelassen,
aus deren Mitte nach dem Fall der Tyrannen ein Nerva und Trajan hervor¬
traten und die Wunden der Menschheit wieder heilten.
Fünf treffliche Fürsten bestiegen in ununterbrochener Reihe nach Domitian
den Thron. Dann begann mit Commodus eine neue Folge von Ungeheuern,
welche in die Fußstapfen der Tibere und Neronen traten, sie an Mannigfaltig¬
keit der Laster und Ausschweifungen übertrafen und sich dennoch Antonine nennen
ließen. Endlich erschien ein Mann, würdig diesen großen Namen zu führen,
und dieser weigerte sich, ihn anzunehmen. Es war der Jüngling Alexander
Severus. „Ich würde erliegen," sagte er, „unter dem Gewicht eines Namens,
welchen Pius und Marcus getragen." Von der dreizehnjährigen Regierung
dieses Jünglings ist mit Recht gesagt worden, daß sie Greisen zum Muster
dienen könne. Mit diesem großen und guten Herrscher war den Wissenschaften
und Tugenden, war aller guten Ordnung die Sonne zum letzten Male wieder
aufgegangen. Er starb, und es wurde über Rom nicht wieder Tag. Mit der
Philosophie ging, was nicht ausbleiben konnte, auch ihre Tochter, die Rechts¬
gelehrsamkeit, unter; die Vernunft selbst schien ausgelöscht zu sein. Alles wurde
Finsternis und Chaos; die Barbarei in doppelter Gestalt triumphierte und
brachte dadurch, daß Roheit und Versunkenheit sich vermischte, einen von Men¬
schen noch nicht erfahrenen Zustand der Tinge hervor. Was aber nur zerstörend
wirkt, hat eine Grenze, wo es zu wirken aufhören und einem ihm entgegenge¬
setzten neuen Beginnen, welches schafft, bildet und bessert, weichen muß. Das
Zerstörende ist nicht von Anfang, sondern das Schaffende. Dieses allein ist ewig;
seine Kräfte veralten nicht.
Und so brach denn auch diesmal, nach einer langen Nacht, wieder eine
Morgenröte an. Der sie heraufführte, war derselbe große Mann, mit dem das
deutsche Kaisertum beginnt. Auf seinem glücklichen Zuge wider die Langobarden
in Italien lernte Karl aus Trümmern den großen Geist des Altertums kennen,
und sein Herz entbrannte für die Wiederbelebung der Wissenschaften und Künste
in dem ganzen Umfange seines Reiches. Er zog Alkuin und andere gelehrte
Männer und Liebhaber der Wissenschaften an seinen Hof. Diese errichteten dort
eine besondere Gesellschaft, deren Mitglied Karl wurde, und gaben ihr den Na¬
men Akademie. So entstand die erste europäische gelehrte Gesellschaft. Ihr Vor¬
steher scheint eine Zeitlang Alkuins gewesen zu sein. Zu ihren Mitgliedern
gehörten, außer dem Kaiser selbst und seinem berühmten Kanzler Eginhard^),
der Erzbischof von Mainz, Rikulf, ferner Theodulf, Angilbert und andre. Die
zahlreichen Abkömmlinge dieser Stiftung leuchten über das ganze neunte Jahr¬
hundert. Daß Karl nicht bloß darum gelehrte Männer um sich versammelte,
weil er bei seiner feurigen Begierde nach Unterricht ihren Umgang lieben mußte,
sondern daß ihm die Bildung seines gesamten Volks, die Veredlung des National¬
charakters am Herzen lag, das beweisen die von ihm gemachten umfassenden An-
_1) Geboren 732, Vorsteher der Domschule zu York, dann am Hofe Karls des Großen, zuletzt Abt
eours.
2) Auch Einhard genannt, Lebensbeschreiber Karls des Großen.
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